Gesammelte Erzählungen. Jules Verne

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Gesammelte Erzählungen - Jules Verne

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Ansicht zu kommen, daß ich die Wichtigkeit des Dokuments übertrieb; daß mein Oheim nicht daran glauben, eine bloße Mystifikation darin finden würde; daß im schlimmsten Falle, wenn er das Abenteuer versuchen wollte, man ihn wider Willen zurückhalten könne; daß er endlich doch selbst den Schlüssel der Chiffre finden könnte, und dann hätte ich umsonst gefastet.

      Diese Gründe, die ich am Tag zuvor mit Unwillen verworfen hätte, schienen mir jetzt vortrefflich; es kam mir so ganz lächerlich vor, daß ich so lange gewartet hatte, und ich entschloß mich, alles zu sagen.

      Ich suchte daher, als der Professor aufstand und, um auszugehen, seinen Hut aufsetzte, eine Gelegenheit der Sache beizukommen, aber nicht zu grell.

      Wie! Das Haus verlassen, und uns abermals einschließen! Nimmermehr.

      »Oheim!« sagte ich.

      Er schien mich nicht zu hören.

      »Oheim Lidenbrock? rief ich nochmals laut.

      – Was? sagte er, wie ein Mensch, der plötzlich aufwacht.

      – Nun! dieser Schlüssel?

      – Welcher Schlüssel? Von der Haustür?

      – Nein, rief ich, der Schlüssel des Dokuments!«

      Der Professor sah mich über die Brille hinweg an; er bemerkte wohl etwas Ungewöhnliches in meinen Gesichtszügen, denn er faßte mich lebhaft beim Arm und fragte mich, unfähig zu reden, mit dem Blick. Doch war die Frage klar ausgesprochen.

      Ich bewegte den Kopf von oben nach unten.

      Er schüttelte den seinigen etwas mitleidig, als habe er’s mit einem Narren zu tun.

      Ich machte ein noch stärkeres Zeichen der Bejahung.

      Seine Augen glänzten lebhaft; seine Hand wurde drohend.

      Diese stumme Unterhaltung unter diesen Umständen hätte den gleichgültigsten Zuschauer interessiert. Und wahrlich, ich wagte nicht einmal ein Wort zu sagen, aus Besorgniß, mein Oheim möge in den ersten freudigen Umarmungen mich ersticken. Aber es war doch dringend geworden, zu antworten.

      »Ja, dieser Schlüssel! … Zufällig! …

      – Was sagst Du? rief er in unbeschreiblicher Gemütsbewegung.

      – Hier, sagte ich, und hielt ihm das Blatt Papier hin, worauf ich geschrieben hatte, lesen Sie.

      – Aber das bedeutet nichts! erwiderte er, indem er das Blatt zerknitterte.

      – Nichts«, und fing an, den Anfang zu lesen, aber vom Ende an …

      Ich hatte meine Phrase noch nicht fertig gelesen, als der Professor einen Schrei, mehr noch, ein wahres Gebrüll hören ließ! Es war seinem Geist ein Licht aufgegangen. Er war ganz umgewandelt.

      »Ach! Sinnreicher Saknussemm! rief er aus, Du hattest also anfangs Deine Phrase umgekehrt geschrieben?«

      Und er fiel über das Papier her, mit trübem Auge, bewegter Stimme, und las das Dokument vollständig vom letzten Buchstaben aufwärts bis zum ersten.

      Es lautete also:

      In Sneffels Yoculis craterem kem delibat umbra Scartaris Julii intra calendas descende, audax Viator, et terrestre Centrum attinges. Kod feci.

      Arne Saknussemm.

      Was in gut Deutsch sich so übersetzen läßt:

      Steig hinab in den Krater des Sneffels Yocul, welchen der Schatten des Skartaris vor dem ersten Juli liebkoset, kühner Wanderer, und Du wirst zum Mittelpunkt der Erde gelangen. Das hab ich vollbracht.

      Arne Saknussemm.

      Als mein Oheim dies gelesen, hüpfte er, als habe er unversehens eine Flasche Leydener getrunken. Vor Freude, Überzeugung und Kühnheit war er prachtvoll. Er ging hin und her, faßte seinen Kopf mit beiden Händen, rückte die Stühle, legte seine Bücher auf einander, spielte – kaum glaublich – Ball mit seinen kostbaren Klappersteinen, schlug mit der Faust hierhin, mit der Hand dorthin. Endlich wurden seine Nerven ruhiger und er sank erschöpft in seinen Lehnstuhl.

      »Wieviel Uhr ist’s doch? fragte er nach einer kleinen Weile.

      – Drei Uhr, erwiderte ich.

      – Höre! Mein Essen war bald vorüber. Ich habe Hunger zum Umfallen. Zu Tische. Hernach …

      – Hernach …

      – Wirst Du meinen Koffer packen.

      – Gut, rief ich.

      – Und den Deinigen!« erwiderte der unbarmherzige Professor beim Eintritt in das Speisezimmer.

      Sechstes Kapitel

      Das Zentrum der Erde

      Bei diesen Worten lief mir ein Schauder über den ganzen Körper. Doch nahm ich mich zusammen. Ich entschloß mich sogar, mich wacker zu halten. Wissenschaftliche Gründe allein konnten den Professor Lidenbrock abhalten. Nun gab’s deren, und zwar gewichtige, gegen eine solche Reise.

      Nach dem Mittelpunkt der Erde zu reisen! Welche Torheit! Ich sparte meine Einwendungen für den günstigen Moment auf und machte mich ans Essen.

      Wie fluchte mein Oheim, als er den Tisch nicht gedeckt sah. Alles klärte sich auf. Die gute Martha bekam wieder ihre Freiheit, eilte auf den Markt und rührte sich dergestalt, daß nach einer Stunde mein Hunger gestillt war und das Bewußtsein der Lage mir wieder kam.

      Während der Mahlzeit war mein Oheim fast lustig; er ließ Scherze hören, die bei einem Gelehrten nie sehr gefährlich sind. Nach dem Dessert winkte er mir, ihm in sein Kabinet zu folgen.

      Ich gehorchte. Er setzte sich ans eine Ende des Tisches, ich ans andere.

      »Axel, sagte er mit ziemlich sanfter Stimme, Du bist ein sehr gescheiter Junge; Du hast mir da einen wackeren Dienst geleistet, als ich des Ringens müde schon den Gedanken aufgeben wollte. Wohin wäre ich geraten? Niemand kann das wissen! Ich werde Dir’s niemals vergessen, und Du wirst an dem Ruhm, den wir erlangen werden, Deinen Anteil haben.

      – Nun, dacht ich, ist er guter Laune; da ist’s Zeit über den Ruhm zu disputieren.

      – Vor Allem, fuhr mein Oheim fort, empfehle ich Dir völliges Geheimniß, verstehst Du mich? Es fehlt in der Gelehrtenwelt nicht an Neidischen, und es würden Viele die Reise unternehmen wollen, die bis zu unserer Rückkehr nichts merken sollen.

      – Meinen Sie, sagte ich, die Zahl solcher Verwegenen sei so groß?

      – Ganz gewiß! Wer würde sich besinnen, solch einen Ruhm zu gewinnen? Wäre dies Dokument bekannt, so würde ein ganzes Heer von Geologen hineilen, Arne Saknussemm’s Spur zu verfolgen.

      – Davon bin ich aber gar nicht überzeugt, lieber Oheim, denn die Echtheit des Dokuments ist durch nichts erwiesen.

      –

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