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diese zwei oder drei Tage in stiller und behaglicher Weise genießen, und vielleicht muß man die Üppigkeit der Welt hier gesehen haben, um dies zu verstehen. Während in einem grauen und öden Flachland Arbeit die einzige Rettung des Menschen vor der Freudlosigkeit des Daseins ist, erweckt innerhalb einer so reichen, von Früchten überquellenden und durch Schönheit beglückenden Natur das Leben den Wunsch nicht so heftig und so wild wie bei uns, reich zu werden. Reichtum ist in der Vision des Brasilianers keineswegs mühsame Aufhäufung von gespartem Geld aus unzähligen Arbeitsstunden, nicht Resultat eines rasenden und nervenzerrüttenden Antriebs. Der Reichtum ist etwas, wovon man träumt; es soll vom Himmel kommen, und die Funktion dieses Himmels ersetzt in Brasilien die Lotterie. Das Lotto ist in Brasilien eine der wenigen sichtbaren Leidenschaften dieses äußerlich so stillen Volkes und die tagtägliche solidarische Hoffnung von Hunderttausenden und Millionen. Ununterbrochen dreht sich das Glücksrad, jeden Tag ist neue Ziehung. Wo man geht und wo man steht, in jedem Geschäft und auf der Straße, auf dem Schiff und in der Bahn werden einem Lose angeboten, und jeder Brasilianer kauft Lose mit dem, was er von seinem Wochenlohn gerade übrig hat, der Friseurgehilfe, der Schuhputzer, der Gepäckträger, der Angestellte und der Soldat. Um eine bestimmte Nachmittagsstunde sieht man dann wie eine schwarze Geschwulst dicke Ansammlungen von Menschen vor den Ziehungsstellen, in allen Häusern und Geschäften ist das Radio aufgedreht, die Erwartung einer ganzen Stadt oder vielmehr des ganzen Landes ist in diesem Augenblick auf eine einzige Ziffer und eine einzige Zahl gestellt. Die oberen Schichten wieder spielen in den Kasinos, und fast jeder Kurort, jedes vornehme Luxusetablissement hat das seine. Monte Carlo ist hier verdutzendfacht, und selten sieht man einen der Tische nicht umdrängt. Aber noch nicht genug an dem. Zu diesem aus Europa importierten Spiel, dem Lotto, dem Baccarat und dem Roulette, hat sich die Bevölkerung hier noch ein eigenes brasilianisches Nationalspiel erfunden, das bicho, das sogenannte Tierspiel, das zwar von der Regierung streng verboten ist, aber trotz aller Verbote auf das fleißigste gespielt wird.

      Dieses Bicho, dieses Tierspiel, hat eine sonderbare Entstehungsgeschichte, die an sich schon deutlich zeigt, wie sehr diese Leidenschaft für das Hasard dem träumerischen und naiven Charakter dieses Volkes zutiefst entspricht. Der Direktor des Zoologischen Gartens in Rio de Janeiro hatte über schlechten Besuch zu klagen. So kam er, seine Landsleute genau kennend, auf die gloriose Idee, daß jeden Tag ein bestimmtes Tier seines zoologischen Gartens, einmal der Bär, einmal der Esel, einmal der Papagei, einmal der Elefant ausgelost wurde. Wessen Besucherkarte diesem Tier entsprach, dem wurde dann der zwanzig- oder fünfundzwanzigfache Eintrittspreis ausbezahlt. Sofort stellte sich der erwünschte Erfolg ein: der Tiergarten wurde durch Wochen von Menschen überfüllt, die eigentlich weniger kamen, um die Tiere sich anzusehen, als die Prämie zu gewinnen. Schließlich wurde es ihnen zu weit und zu mühsam, immer wieder in den Tiergarten zu gehen. So spielten sie privatim untereinander, welches Tier an diesem Tage ausgelost werden würde. Kleine Winkelbanken taten sich hinter Schanktischen und an den Straßenecken auf, welche den Einsatz aufnahmen und die Gewinne ausbezahlten. Als dann die Polizei das Spiel verbot, wurde es auf geheimnisvolle Weise dem jeweiligen Lottoresultat angegliedert, in dem jede Ziffer für einen Brasilianer ein bestimmtes Tier darstellte. Um der Polizei jeden Beweis zu entziehen, wird auf Treu und Glauben gespielt. Der Winkelbankier stellt keine Bescheinigung für seine Klienten aus, aber es ist kein einziger Fall bekannt, wo er seine Verpflichtung nicht verläßlich eingehalten hätte. Dieses Spiel hat, vielleicht gerade um des Verbotenen willen, alle Kreise erfaßt, jedes Kind in Rio weiß schon, kaum es in der Schule zählen gelernt hat, welche Zahl jedes Tier darstellt, und kann die ganze Liste besser heruntersagen als das Alphabet. Alle Autoritäten, alle Strafen haben sich als illusorisch erwiesen. Denn wozu träumt der Mensch des Nachts, wenn er dann nicht morgens seinen Traum in Ziffer und Zahl, in Tier- und Lottospiel umsetzen dürfte? Wie immer haben sich die Gesetze machtlos erwiesen gegen eine wirkliche Volksleidenschaft, und immer wieder wird der Brasilianer, was ihm an Raffgier fehlt, kompensieren durch diesen täglichen Traum von plötzlichem Reichwerden.

      Es ist also keine Frage: wie aus der Erde selbst noch lange nicht alle potentiellen Werte, so hat auch die große Masse Brasiliens aus sich noch nicht hundertprozentig herausgeholt, was in ihr an Begabung, an Arbeitskraft, an aktiven Möglichkeiten steckt. Aber im ganzen gesehen ist in Anrechnung der klimatischen Hemmungen, der körperlichen Feinorganisiertheit die Leistung eine äußerst respektable, und man zögert nach den Erfahrungen der letzten Jahre, ein allfälliges Manko an Ungeduld und Impetus, ein Es-nicht-allzu-eilig-Haben mit dem Vorwärtskommen, einen Fehler zu nennen. Denn es ist eine Frage weit über das brasilianische Problem hinaus, ob das friedliche, sich selbst bescheidende Leben von Nationen und Individuen nicht wichtiger ist als der übersteigerte, überhitzte Dynamismus, der eine Nation gegen die andere zum Wettkampf und schließlich zum Kriege treibt, und ob bei dem hundertprozentigen Herausholen aller seiner dynamischen Kräfte nicht etwas im seelischen Erdreich des Menschen durch dieses ständige doping, diese fiebrige Überhitzung eintrocknet und verdorrt. Der kommerziellen Statistik, den trockenen Zahlen der Handelsbilanz steht hier etwas Unsichtbares als der wahre Gewinn gegenüber: eine unverstörte, unverstümmelte Humanität und ein friedliches Zufriedensein.

      Diese erstaunliche Genügsamkeit der Existenzform charakterisiert die ganze untere Schicht dieses Landes, und es ist eine ungeheure Schicht, eine dunkle und unabsehbare Masse, die bisher statistisch in ihrer Zahl oder in ihren Lebensbedingungen nie vollkommen erfaßt werden konnte. Wer in großen Städten lebt, begegnet ihr kaum. Sie ist nicht gesammelt wie etwa die amerikanische, die europäische Masse der Besitzlosen in Fabriken oder Arbeitsstätten, und man kann sie eigentlich nicht Proletariat nennen, weil diesen versteckten und über das Land hin verstreuten Millionen jede Bindung untereinander fehlt. Die caboclos des Amazonas, die seringueiros in den Wäldern, die vaqueiros auf den großen Weideflächen, die Indios in ihrem oft unzugänglichen Dickicht sind nirgends zu großen übersichtlichen Siedlungen vereinigt, und der Fremde (und auch der einheimische Großstädter) weiß eigentlich wenig von ihrer Existenz. Er weiß nur dunkel, daß irgendwo diese Millionen sind, und daß sowohl der Bedarf als auch das Einkommen dieser untersten, fast durchweg farbigen Masse sich an der untersten Grenze des Lebensniveaus knapp an dem Nullpunkt bewegt. Seit hunderten Jahren hat sich die Lebenshaltung dieser vielfach gemischten Abkömmlinge der Indios und Sklaven weder verändert noch verbessert, und wenig von den Leistungen und Fortschritten der Technik ihr Leben überhaupt erreicht. Die Wohnung schaffen sich die meisten selbst, eine Hütte oder ein kleines Haus aus Bambusrohr, mit Lehm beworfen und mit Schilf gedeckt, das sie sich mit eigener Hand irgendwo erbauen. Gläserne Fenster sind schon ein Luxus, ein Spiegel oder sonst ein Einrichtungsgegenstand außer Bett und Tisch in diesen Wohnhütten des inneren Landes eine Seltenheit. Für diese selbstgebaute Hütte bezahlt man allerdings keine Miete; außer in den Städten stellt Grund und Boden einen solchen non-valeur dar, daß niemand sich die Mühe nehmen würde, für ein paar Quadratmeter Entgelt zu verlangen. An Kleidung erfordert das Klima nicht mehr als eine Leinenhose, ein Hemd und einen Rock. Die Banane, der Mandioca, die Ananas, die Kokosnuß geben sich von Baum und Strauch umsonst, ein paar Hühner finden sich leicht dazu und allenfalls noch ein Schwein. Damit sind die Hauptbedürfnisse des Lebens gedeckt, und welche geregelte oder gelegentliche Tätigkeit dieser Arbeiter denn verrichtet, immer bleibt ihm noch etwas für die Zigarette und die anderen kleinen – allerdings winzig kleinen – Notwendigkeiten seiner Existenz. Daß die Lebensverhältnisse dieser Unterklasse, besonders im Norden, unserer Zeit nicht mehr entsprechen, daß bei der geradezu endemischen Armut ganzer Landstriche die Bevölkerung durch Unterernährung geschwächt und zu einer normalen Leistung nicht fähig ist, wissen die oberen Stellen längst selbst, und ununterbrochen werden Maßnahmen erwogen und angeordnet, dieser im wahrsten Sinne nackten Armut zu steuern. Aber in dieses von Bahnen und Straßen gleich abgelegene Hinterland, in die Wälder von Mato Grosso und Acre können die von der Regierung Getúlio Vargas festgelegten Minimallohnsätze als Norm noch nicht vordringen, Millionen Menschen sind weder im Sinne einer regulierten, organisierten, kontrollierten Arbeit, noch in dem der Zivilisation überhaupt erfaßt, und es wird Jahre und Jahrzehnte dauern, ehe sie dem nationalen Leben tätig eingeordnet werden können. Wie alle Kräfte seiner Natur, so hat Brasilien auch diese weite und dunkle Masse weder als Produzent noch als Konsument von Gütern bisher ausgewertet. Auch sie stellt eine der ungeheuren Reserven der Zukunft, eine der vielen noch nicht in Leistung umgesetzten potentiellen Energien dieses erstaunlichen Landes dar.

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