analphabetisch und in ihrem Lebensstandard nahe dem absoluten Tiefpunkt – bisher wenig oder eigentlich gar nichts zur Kultur beitragen konnte, erhebt sich, stark aufstrebend und ständig in ihrem Einfluß wachsend, die kleinbürgerliche, die ländliche Mittelklasse: die Angestellten, die kleinen Unternehmer, die Geschäftsleute, die Handwerker, die vielfältigen Berufe der Städte und der Fazendas. In dieser durchaus rationalen Schicht prägt sich am deutlichsten die bestimmte und bewußte brasilianische Eigenheit in einem unverkennbar persönlichen Lebensstile aus – einem Lebensstil, der viel der alten kolonialen Tradition nicht nur bewußt aufrechterhält, sondern auch schon schöpferisch weiterbildet. Es ist nicht leicht, in ihre Existenz hineinzublicken, denn in der äußeren Haltung fehlt jede Ostentation, diese Klasse lebt völlig einfach und unauffällig und fast möchte ich sagen, lautlos, weil drei Viertel der Existenz sich ganz in unserem alten europäischen Stil im Familienkreis erfüllt. Ein eigenes Haus bildet – außer in Rio de Janeiro und São Paulo, wo in unseren Tagen die vielstöckigen Häuser eigentlich zum erstenmal den Typus der Mietswohnung eingeführt haben – die unauffällige Schale, die den eigentlichen Kern des Daseins, den Familienkreis umschließt. Es ist fast immer ein kleines Haus mit ein oder höchstens zwei Stockwerken und drei bis sechs Zimmern, das nach außen ohne Prätention und ohne Zierrat sich in die Gasse einordnet und innen mit so einfachem Mobiliar eingerichtet ist, daß für Feste und Gäste kein Raum bleibt. Außer bei drei- oder vierhundert »oberen« Familien wird man im ganzen Lande kein wertvolles Bild, kein Kunstwerk auch nur von mittlerem Rang, keine wertvollen Bücher finden, nichts von der breiten Bequemlichkeit des europäischen Kleinbürgers – immer wieder ist es in Brasilien die Genügsamkeit, die einem von neuem auffällt. Da das Haus ausschließlich für die Familie bestimmt ist, versucht es nicht mit falschem Prunk und kleinen Üppigkeiten zu blenden. Mit Ausnahme des Radios und des elektrischen Lichts und allenfalls eines Badezimmers ist heute seine Einteilung nicht anders als in der Kolonialzeit der Vizekönige und auch die Lebensform in diesem Hause; in der Sitte hat manches Patriarchalische aus dem anderen Jahrhundert, das bei uns längst – man bedauert es fast – historisch geworden ist, sich noch in voller Geltung erhalten: vor allem widerstrebt hier bewußt ein traditioneller Wille der Auflockerung des Familienlebens und des väterlichen Autoritätsprinzips. Wie in den alten Provinzen Nordamerikas wirkt auch hier die strengere Auffassung der Kolonialzeit unbewußt nach; man begegnet hier noch in voller Geltung, was unsere eigenen Väter in Europa uns von der Welt ihrer Väter erzählten. Die Familie ist hier noch der Sinn des Lebens und das eigentliche Kraftzentrum, von dem alles ausgeht und zu dem alles zurückführt. Man lebt und man hält zusammen; wochentags im engeren Kreise, versammelt man sonntags den weiteren Kreis der Verwandten; gemeinsam wird der Beruf, das Studium des einzelnen bestimmt. In der Familie wiederum ist der Vater, der Mann noch unbeschränkter Herr über die Seinen. Er hat alle Rechte und Vorrechte, kann Gehorsam als selbstverständlich voraussetzen, und es ist besonders in den ländlichen Kreisen noch wie einst bei uns in früheren Jahrhunderten der Brauch, daß die Kinder dem Vater die Hand küssen als Zeichen des Respekts. Die männliche Superiorität und Autorität sind noch unbestritten und dem Manne vieles verstattet, was der Frau versagt ist, die, wenn auch nicht mehr so streng gehalten wie noch vor wenigen Jahrzehnten, im wesentlichen auf den inneren Wirkungskreis im Haus beschränkt ist. Die bürgerliche Frau betritt hier fast nie allein die Straße, und selbst von einer Freundin begleitet wäre es unzulässig, wenn sie nach Einbruch der Dämmerung ohne ihren Gatten außer dem Hause gesehen würde. Darum sind abends, ähnlich wie in Spanien oder Italien, die Städte eigentlich nurmehr Männerstädte; die Männer sind es, die die Cafés überfüllen, auf den Boulevards promenieren, und es wäre selbst in den Großstädten kaum denkbar, daß Frauen oder Mädchen abends ohne Begleitung des Vaters oder Bruders in ein Kino gingen. Emanzipationsbestrebungen oder Frauenrechtlerei haben hier noch keinen Boden gefunden, selbst die berufstätigen Frauen, die hier noch in verschwindender Minorität gegen die an Haus und Familie gebundenen stehen, bewahren die traditionelle Zurückhaltung. Noch eingeschränkter ist selbstverständlich die Stellung der jungen Mädchen. Freundschaftlicher Verkehr mit jungen Leuten auch naivster Art, sofern er nicht deutlich von Anfang an sich mit Heiratsabsichten verbindet, ist selbst heute noch nicht üblich, und das Wort flirt läßt sich nicht ins Brasilianische übersetzen. Im allgemeinen heiratet man, um alle Komplikationen zu vermeiden, außerordentlich früh, die Mädchen aus den bürgerlichen Kreisen meist mit siebzehn, mit achtzehn Jahren, wenn nicht schon vordem. Baldiger sowie reichlicher Kindersegen ist hier noch erwünscht und nicht gefürchtet. Frau, Haus, Familie sind hier noch innig verbunden, außer bei wohltätigen Veranstaltungen treten die Frauen selbst bei festlichen oder repräsentativen Anlässen niemals in den Vordergrund und – mit Ausnahme der Geliebten Dom Pedros I., der Marquise von Santos – haben sie im politischen Leben niemals eine Rolle gespielt. Amerikaner und Europäer mögen dies hochmütig als rückständig empfinden, aber diese unzähligen Familien, die still und ohne jede Vordringlichkeit in ihren kleinen Häusern zufrieden leben, bilden durch ihre gesunde, normale Existenzform das eigentliche Kraftreservoir der Nation. Aus dieser mittleren Schicht, die trotz ihrer konservativen Lebenshaltung bildungseifrig und fortschrittsfreundlich gesinnt ist; aus diesem festen und gesunden Humus stammt heute jene Generation, die die Führung des Landes mit den alten und aristokratischen Familien zu teilen beginnt, und in gewissem Sinne ist Vargas, der selbst vom Lande und aus dem Mittelstand stammt, der sinnfälligste Ausdruck dieser neuen, stark und energisch aufstrebenden und doch gleichzeitig bewußt traditionellen Generation.
Über dieser, das ganze Land schon durchdringenden und sich ständig in ihrem Einfluß steigernden Klasse, die das neue Brasilien repräsentiert, steht – oder besser gesagt, besteht unentwegt die alte und bedeutend kleinere, die man die aristokratische nennen möchte, wenn in diesem neuen und durchaus demokratischen Lande dieses Wort nicht irreführend wirken würde. Denn, teilweise noch aus der Kolonialzeit stammend, teilweise erst mit König João aus Portugal herübergekommen, hatten diese vielfach untereinander verschwägerten – manchmal geadelten, manchmal ungeadelten – Familien nicht eigentlich Zeit, zu einer aristokratischen Kaste zu erstarren; ihre Gemeinsamkeit bestand einzig in der Lebenshaltung und der schon seit Generationen hochentwickelten geistigen Kultur. Vielgereist in Europa oder von europäischen Lehrern und Gouvernanten herangebildet, zum großen Teil reich begütert oder in hohen Regierungsfunktionen, haben sie seit dem Beginn des ersten Kaiserreichs den geistigen Zusammenhang mit Europa ständig bewahrt und ihren Ehrgeiz daran gesetzt, Brasilien vor der Welt im Sinne kultivierter und fortschrittlicher Wesensart zu repräsentieren. Aus diesen Kreisen stammt die Generation jener großen Staatsmänner wie Rio Branco, Rui Barbosa, Joaquim Nabuco, die auf das glücklichste verstanden, innerhalb der einzigen Monarchie Amerikas den nordamerikanisch-demokra-tischen Idealismus mit dem europäischen Liberalismus zu verbinden und jene Methode der Konzilianz, der Schiedsgerichte und Verträge, die für die brasilianische Politik so ehrenvoll ist, auf eine stille und beharrliche Weise durchzusetzen.
Noch heute ist die Diplomatie fast ausschließlich diesen Kreisen vorbehalten, während der Verwaltungsdienst und das Militär schon mehr in die Hände der jungen, aufsteigenden Bürgerklasse überzugehen beginnen. Aber ihr kultureller Einfluß auf das allgemeine Repräsentationsniveau ist noch immer wohltätig fühlbar. Auch in ihrer Lebenshaltung fehlt jede Ostentation. In schönen Häusern mit alten, wundervollen Gärten wohnend, die sich aber keineswegs als Paläste markieren, meist in den früher exklusiven Teilen der Stadt, in Tijuca und Laranjeiras oder der Rua Paissandú halten sie in der Wohnkultur am Traditionellen fest, Sammler von allen historischen Kunstwerten ihres Landes, und stellen in ihrer gleichzeitigen nationalen Gebundenheit und geistigen Universalität einen Typus höchster Zivilisation vor, wie er in den anderen südamerikanischen Ländern fast völlig fehlt, und der stark an den österreichischen erinnert in seiner Kunstfreundlichkeit und geistigen Liberalität. Noch sind diese alten Familien – alt meint hier schon hundert Jahre – in ihrer kulturellen Vorherrschaft nicht verdrängt durch eine neue Aristokratie des Reichtums, weil sie großenteils selbst vermögend sind und hier die Unterschiede viel unmerklicher als bei uns ineinanderfließen. Das Brasilianische kennt nicht das Exklusive – dies seine eigentliche Kraft – und wie in der rassenmäßigen, so ist auch in der sozialen Schichtung der Assimilationsprozeß ein ständiger. Alle Tradition, alle Vergangenheit ist hier zu kurzfristig, als daß sie sich nicht willig und leicht in die neuen und erst werdenden Formen des Brasilianischen auflöste.