Seine schönsten Erzählungen und Biografien. Stefan Zweig
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Aber es erweist sich in Amerika, diesem mit ganz anderer Vehemenz aufstrebenden Kontinent, immer als Fehler und verhängnisvolle Bescheidenheit, in europäischen Maßen zu denken und zu rechnen. Zeit und Raum haben jenseits des Ozeans ein anderes dynamisches Maß. Hier entwickeln sich alle Dinge geschwinder, um freilich auch rascher zu veralten. Und so ist durch das tropische Wachstum Rios und den phantastisch sich entwickelnden Verkehr schon heute die Avenida Rio Branco längst zu eng, zu schmal geworden, ständig verstopft durch die Prozession der Autos, die nur im Schritt sich vorwärts bewegen können, donnernd von Lärm, überfüllt von Menschen und überdies noch rechts und links zurückgepreßt in ihrem Strombett durch die vorgeschobenen Planken der ständigen Umbauten. Denn schon scheinen die Prachtbauten von 1910 hier nicht mehr prächtig und verwegen genug, das Luxushotel von einst ist bereits zum Abbruch verurteilt, und an seiner Stelle soll ein zweiunddreißig Stock hoher Bau errichtet werden, die sechsstöckigen Häuser setzen entweder neue Stockwerke auf oder werden völlig umgestaltet; was vor dreißig Jahren mächtig und sogar monströs erschienen, wirkt heute klein und im Stil antiquiert und altmodisch. Die Oper, ganz in den Schatten gedrängt, kann ihre Proportionen nicht mehr entfalten, das Kunstmuseum und die Bibliothek haben ihre Superiorität verloren, und wie bei den Pariser Innenboulevards, der Berliner Friedrichstraße, der Londoner Regent Street beginnen die Luxusgeschäfte vor dieser wilden Betriebsamkeit sich in stillere Nebengassen zurückzuziehen. Die Prunkstraße ist heute nicht viel mehr als die obligate Verkehrsstraße und Durchgangsstraße ohne besonderes Cachet und ohne künstlerische Persönlichkeit; gerade was ihr als Charakter zugedacht war, die Vornehmheit, ist verloren, weil sie heute einzig der Zeit zu dienen sucht und ihr doch nicht mehr genügt.
Um ihren immer mächtigeren Rhythmus voll entfalten zu können, brauchte die Stadt darum neue und breitere Boulevards außer diesem einen, und sie schafft sie sich in ihrer ständigen Atemnot mit entschlossener Kraft. Rechts und links – die Pläne sind wirklich grandios in ihrer Verwegenheit – stößt sich Rio von innen heraus immer neue Avenuen frei, ganze Häuserblöcke wegfegend, wie eine vorwärtsrasende Lokomotive ein papiernes Blatt. Hügel werden abgetragen, ganze Karrees von Häusern der Spitzhacke ausgeliefert, Felsen mit Tunnels durchbohrt, die Berge empor in zementenen Serpentinen breite Verbindungen gebahnt. Rechtzeitig hat hier eine vorausdenkende Verwaltung erkannt, daß es nichts nützt, mit Raum zu sparen, indem man die Häuser höher türmt, wenn gleichzeitig die Stadt sich wie ein überkochender Topf weit und weiter hinaus ins Land ergießt. Die alten Hauptstraßen, die Rua Carioca und Catete und Laranjeiras, die nach Tijuca und Isidoro und Meyer halten den Verkehr mehr auf als sie ihm dienen, und von dem neuen Wohnviertel in das Herz der Stadt fährt man mit dem Auto eine halbe Stunde und noch mehr. Es mußte also Raum gewonnen werden um jeden Preis, und am nachgiebigsten, am gefälligsten erwies sich noch das Meer. Einer Bucht, die sich auf Meilen dehnt, zweihundert und sogar fünfhundert Meter durch Aufschüttung fortzunehmen, hieß dem unendlichen Meer nicht viel nehmen und doch der Stadt unendlich viel gewinnen. So entstanden die großen Strandboulevards, die heute den Blick umranden und durch den Blick auf das Meer und die Landschaft, geschmückt mit Bäumen, durchzogen von Gärten, mit ihren immer abwechslungsvollen Formen dem modernen Rio als Entgelt für seine alte Romantik eine neue Schönheit geben. Sie wirken wie der weiße Rand eines Buches um den gedruckten Text. Jede Seite dieses wie von Gottes Hand aufgeschlagenen Buches sagt eine andere Schönheit aus, und man wird nicht müde, sie immer und immer wieder aufzublättern. Dank der bizarren Formung, in der sich in fünffachen und sechsfachen Buchten das Meer in die Stadt hineinschmiegt, wirkt an jeder Kurve der Blick abwechslungsreicher. Man kann Rio wirklich nur mit einem gemalten Fächer vergleichen, wo jedes Blatt seine besondere Zeichnung hat und doch erst der voll ausgebreitete Fächer das ganze Bild ergibt.
Wer diese Strandboulevards im Auto durchfährt oder wenn er stundenlang zu marschieren bereit ist – entlanggeht, durchwandert eigentlich sechs oder sieben oder acht völlig verschiedene Städte. Da strahlen zuerst zur Linken der Avenida Rio Branco all die Straßen aus, die zum Hafen und damit in die Handelsstadt führen. Hier landen die großen Ozeandampfer, hier stoßen die Ferryboote nach den Inseln ab, hier füllt sich der farbenfunkelnde Markt mit Blüten und Früchten, hier wartet der Flugplatz mit seinen silbernen Schwalben, hier scharen die Docks und die Arsenale und die Kasernen der Marine sich zusammen; in neuer stolzer Gruppe erhebt sich der mächtige Block der zusammengescharten Ministerien, zwölf-, vierzehn-, sechzehnstöckige Bauten von neuzeitlichstem Charakter. Nach einem kühnen Plan ist beinahe die ganze Verwaltung des riesigen Reiches hier wie zu einem einzigen aufstrebenden Block vereinigt. Aber mögen auch Hafen und Geschäftsstadt und Verwaltungsstadt um ein paar Nuancen farbiger getönt sein als anderswo, die Physiognomie des Modernen wirkt hier noch international. Noch hat man die eigentliche, die persönliche Stadtschönheit Rios nicht gespürt, die weder im Nutzhaften noch im Historischen liegt, sondern in der unvergleichlichen Kunst, wie sie alle Gegensätze harmonisch zu lösen vermag.
Die kostbare, nachts mit tausend Lichtperlen leuchtende Kette der Strandboulevards beginnt eigentlich erst, sobald man die Avenida verläßt; die Praça Paris, von der sie ausgeht, ist gleichsam ihre kunstvolle Schließe. Der Name Praça Paris ist nicht zufällig. Zweifellos haben die französischen Stadtarchitekten, die den Plan entwarfen, an den Place de la Concorde gedacht, wenn er abends mit den runden Bogenlichtern strahlte. Aber diese Praça Paris hat noch den Blick auf die Bucht mit ihren gegenüberliegenden Inseln und Bergen, Luxus des Städtischen verbindet sich dem Verschwenderischen der Natur in einem unvergeßlichen Bild. Zwischen das blaue Meer und die weißen Häuserreihen ist ein breiter Streifen Grün gestellt, und der Himmel ruht offen über den Wipfeln dieses Parks, durch den blau, rot, grün, gelb wie wildgewordene Tiere die Automobile und Autobusse sausen, ohne aber wie in den meisten anderen Straßen durch ihr Jagen und Heulen den Blick zu verwirren. Hier kann der Blick rasten und betrachten, was ihm beliebt. Die belebte Linie der Palácios und Hotels, die freie Bucht mit ihrem weißen Saum von Niterói und den Schiffen und Ferrybooten oder auf den Hügeln über den Häusern die weiße, noble, alte Kirche Nossa Senhora da Glória, die sich abhebt von den massigeren Hängen des wie eine Kulisse fern aufsteigenden Gebirges.
Schon glaubt er alles umfaßt zu haben, dieser erste Blick, die ganze panoramische Schau, aber wie wenig erst hat er gesehen, wieviel erwartet ihn noch! Nach der Praça Paris verengert sich die Straße und drückt sich näher ans Meer als Avenida Beiramar und wird zur Praia do Flamengo. Hier waren früher die vornehmen alten Residenzen und blickten zwischen Gärten bescheiden aus einem ersten oder zweiten Stockwerk auf den Strand. Aber der Platz mit diesem freien Blick und der kühlenden Brise war zu kostbar. Elf und zwölf Stock hoch steigen jetzt in steiler zementener Front die Häuser empor, und die Riesenpalmen, die den früheren Gebäuden die Dächer beschirmten, reichen den neuen kaum mehr bis zu ihrer Brust. Der Blick auf die Bucht wird allmählich enger, denn gegenüber steht stolz – und nachts mit einer Lichtkrone geschmückt – der Pão de Açúcar, der Zuckerhut, ein mächtiger Fels, der den Eingang zur Bucht bewacht, und vor dem jedes Schiff demütig vorüberziehen muß, das in den Hafen will. Und wieder eine Wende, eine Kehre, und man ist in einer anderen Bucht, der von Botafogo. Verschwunden die freie Vista, man glaubt an einem von Bergen