Brennpunkt Hongkong. Alexander Görlach

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Brennpunkt Hongkong - Alexander Görlach

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      Alexander Görlach

      Brennpunkt Hongkong

      Warum sich in China die Zukunft der freien Welt entscheidet

      Hoffmann und Campe

      Für Andrew Liu,

      dem ich die Zeit in Hongkong und Taiwan verdanke.

      Einleitung: Hongkongs Kampf für Demokratie

      Wer zum ersten Mal nach Hongkong kommt, dem bleibt vor Staunen der Mund offen stehen. Hunderte schlanke Hochhäuser ragen dicht an dicht in den Himmel. Sie heben und senken sich mit den Hügeln, auf denen sie errichtet sind. Manche der Wolkenkratzer sind von oben bis unten mit pastellfarbenen Streifen angestrichen, das soll gefällig sein fürs Auge und von der Enge ablenken, die typisch ist für Hongkong. Zwischen den Hochhäusern liegen schmale Innenhöfe, einige von ihnen sind mittlerweile weltberühmt, weil sich Menschen davor ablichten und die Fotos auf Instagram präsentieren. Wer das Foto schießt, muss in die Hocke gehen, um die gewaltigen, nach oben strebenden Betonmassen einzufangen. Man erkennt auf diesen Bildern, dass sich hinter den Fenstern nur sehr kleine Apartments befinden. Ihre Bewohner hängen die Wäsche an Gitter vor den Fenstern zum Trocknen auf, wie man es aus den engen Sträßchen des europäischen Südens kennt. Jeder Zentimeter zählt in Hongkong, einer der am dichtesten besiedelten Städte der Welt. Die Mieten sind entsprechend teuer, jede noch so kleine Fläche wird ausgebeutet.

      Was man auf den Instagram-Fotos nicht sehen kann, ist das tropische Klima, das in Hongkong herrscht. Es legt einen nassen Dunst über die Stadt und auf die Haut. Die Menschen ächzen unter der Schwüle. Nur klimatisierte Räume machen das Leben zwischen März und November erträglich. Hongkonger bewegen sich deshalb lieber nicht auf den Straßen, sondern zwei Stockwerke darüber: Sie wandeln durch klimatisierte Shoppingmalls, die es in jedem Haus gibt und die durch Brücken miteinander verbunden sind. Wer Hongkong besucht, sollte nicht auf Google Maps als Orientierungshilfe hoffen, sondern muss in einem langwierigen und bisweilen frustrierenden Prozess lernen und sich einprägen, welches Haus mit welchen anderen Häusern verbunden ist, um von A nach B zu gelangen. Die funktionalen Wandelgänge sind überdacht, sodass man auch bei tropischen Regenfällen trockenen Fußes durch die Stadt gehen kann. Hongkong ist eben anders als andere Städte.

      Ich habe die Metropole zum ersten Mal im Spätsommer 2017 besucht, als Gastwissenschaftler an der City University of Hong Kong. Es war der erste Besuch von vielen in einem akademischen Jahr, während dem ich erforschen wollte, wie die Demokratien von Hongkong und Taiwan mit dem Aufstieg der autokratischen Volksrepublik China in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft umgehen. Taiwan und Hongkong, so sollte ich in den folgenden Monaten lernen, sind sehr verschieden, was die Umstände ihrer Situation betrifft: Hongkong ist zwar ein Teil der Volksrepublik China, aber ausgestattet mit demokratischen Sonderrechten, und Taiwan funktioniert quasi unabhängig wie ein Nationalstaat mit einem eigenen Parlament und einer eigenen Regierung, mit einer eigenen Währung, einem eigenen Militär und eigenen Pässen. Peking freilich betrachtet die demokratische Inselrepublik als eine abtrünnige Provinz. Nachdem Xi Jinping im Jahr 2012 Generalsekretär der Kommunistischen Partei und im Jahr darauf Präsident der Volksrepublik China geworden ist, verschärfte er die Gangart seines Landes gegenüber den zwei benachbarten Demokratien so drastisch, dass die beiden mittlerweile untereinander mehr Gemeinsamkeiten teilen, als sie dies mit China tun.

      In den akademischen Jahren vor meinem Besuch in Taiwan und Hongkong habe ich an der Harvard University im US-Bundesstaat Massachusetts zum Zustand der liberalen Demokratie und ihrer Zukunft gearbeitet. In der Regel sprechen wir ausschließlich über westliche Länder, wenn wir über Demokratie nachdenken. Dabei greifen wir viel zu kurz. Denn was wir heute »liberale Demokratie« nennen, gibt es nicht nur innerhalb der europäischen oder der atlantischen Welt. Taiwan, Südkorea und Japan sind ebenfalls Kinder einer demokratischen Entwicklung, die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unter der Führung der Vereinigten Staaten von Amerika sowohl über den Atlantik als auch über den Pazifik Bahn brach.

      Im Westen argumentieren manche, dass unsere heutige Form der Demokratie, die auf den Menschenrechten gründet, sich aus den Quellen des Christentums und der Aufklärung speise. Für jene, die so sprechen, scheint es zwischen unserer liberalen demokratischen Kultur und anderen Kulturen einen unüberbrückbaren Graben zu geben. Nur ein Tag in Hongkong oder in Taiwan belehrt jeden eines Besseren. Ob jemand bei minus 20 Grad im neuenglischen Cambridge bibbert oder bei plus 40 Grad auf Hongkongs Straßen schwitzt, ob etwas in lateinischen oder in chinesischen Schriftzeichen zu lesen ist, ob vor dem Hintergrund von Kirchtürmen oder von spargelschlanken Hochhäusern: Demokratie funktioniert überall auf der Welt.

      Am Flughafen gewinnen Reisende einen ersten Eindruck von dem Ort, den sie besuchen. Der Hongkonger Flughafen gibt einen kleinen Ausblick auf das, was einen in der Stadt und darüber hinaus in ganz Ostasien erwartet: effiziente Prozesse, penible Hygienevorschriften und absolute Pünktlichkeit. Das bedeutet: Es gibt keine langen Schlangen bei der Einreise, jede Toilette ist sauber, und der Hochgeschwindigkeitszug in die Innenstadt fährt auf die Sekunde genau ab. Wer der Meinung ist, dass solche Akkuratesse nur in Nichtdemokratien möglich ist, weil Sauberkeit im öffentlichen Raum fast schon wie ein diktatorischer Einschnitt in die persönliche Entfaltung wirkt, dem sei versichert, dass schmutzige Bahnsteige und dreckige Toiletten keineswegs das unausweichliche Schicksal einer Demokratie sein müssen. Allein um mit eigenen Augen zu sehen und zu erleben, was für eine Auswirkung eine funktionierende Umwelt auf den Alltag haben kann, hat es sich schon gelohnt, die USA mit ihrer maroden Infrastruktur in Richtung Ostasien zu verlassen.

      Jedes Mal, wenn ein Zug während meines Jahres in Hongkong und Taiwan pünktlich den Bahnhof verließ (also jedes Mal, wenn ich eine Reise antrat), dachte ich an Deutschland und seine Bahn, in deren Statistiken ein Zug noch als pünktlich geführt wird, wenn er weniger als sechs Minuten Verspätung hat. Dort, wo ich zu Gast war, würde man das nicht mit sich machen lassen. Im November 2017 kündigte ein führender Manager der japanischen Bahn nach einer öffentlichen Entschuldigung seinen Job, weil ein Zug in seiner Verantwortung 20 Sekunden zu früh abgefahren war! Kurz nach meiner Ankunft in Taiwan, im August 2017, trat der Energieminister des Landes zurück, weil ein Blackout den Norden der Insel für knapp vier Stunden vom Stromnetz trennte. In unseren Breiten gibt es eine solch konsequente Übernahme von Verantwortung nicht mehr. Hier gilt es umgekehrt schon als eine legitime Reaktion, gerade dann im Amt bleiben zu wollen, wenn man etwas verpatzt hat, um zu zeigen, dass man Verantwortung für seine Fehler übernimmt.

      Aber Demokratien in Ostasien unterscheiden sich nicht nur durch Effizienz, Hygiene und Pünktlichkeit von denen des Westens. In dieser Weltregion, vor allem aber in Hongkong und Taiwan, besteht der Hauptunterschied darin, dass die Demokratien in unmittelbarer Nachbarschaft zur Volksrepublik China, einer kommunistischen Diktatur, bestehen müssen. Peking mischt sich heftig in die inneren Angelegenheiten der beiden ein, da die Nomenklatura und ihr Präsident, Xi Jinping, darauf beharren, dass Taiwan und Hongkong Teile Chinas seien.

      Hongkong ist in der Tat ein Teil Chinas, aber durch die vertragliche Regelung »ein Land, zwei Systeme« wird die Finanzmetropole zu einer demokratischen Sonderzone mit eigener Gerichtsbarkeit, unabhängiger Presse und freier Wissenschaft. Und auch Taiwan und die Volksrepublik haben eine Vergangenheit miteinander, aber sie haben sich nach dem chinesischen Bürgerkrieg, der vor über 70 Jahren endete, maximal voneinander entfernt: Taiwan ist heute eine liberale Demokratie, die Volksrepublik ist es nicht. Beide Demokratien, Hongkong und Taiwan, haben deshalb, Zugverspätungen hin oder her, mit Deutschland und den USA mehr gemeinsam als mit China. Die Volksrepublik hat keinen Beleg dafür, dass Taiwan chinesisch ist, und was Hongkong betrifft, so bricht sie die vertraglich gegebenen Zusagen stets aufs Neue. An beiden Orten haben sich deshalb, vor allem angetrieben von Studierenden, Protestbewegungen gebildet, die sich gegen das Vorgehen Chinas wehren.

      In Hongkong war die Erinnerung

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