Brennpunkt Hongkong. Alexander Görlach

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Brennpunkt Hongkong - Alexander Görlach

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die beiden Geschlechter und bewegten sich, die Disposition der Geschlechtsmerkmale belege dies, aufeinander zu. Die behauptete Binarität wird unter Umständen noch dem lieben Gott in die Schuhe geschoben, der die Welt so geschaffen habe. Sensibilität gegenüber Menschen, die sich nicht in dieses simple Weltbild einordnen lassen? Fehlanzeige.

      Illiberale sind Autokraten. Ein Autokrat ist, definitionsgemäß, einer, der ohne Beschränkung Politik betreiben kann. Beschränkung meint hier, dass der Autokrat selbst der Gesetzgeber ist und weder von Gesetzen noch von einer Verfassung in seiner Herrschaftsausübung in die Schranken gewiesen werden kann. »Die Stände, das bin ich«, soll der Sonnenkönig Ludwig XIV. gesagt haben, der als absolutistischer Monarch gilt. In der landläufigen Übersetzung von »L’état, c’est moi« – »Der Staat bin ich« – kommt das pointierter zum Ausdruck. Ein Autokrat ist ein Absolutist. Der demokratische Verfassungsstaat ist der Gegenspieler der Autokratie. Dort bestimmen Gesetze die Abläufe und nicht der Wille einer Person. Darüber hinaus haben jede und jeder Einzelne für sich, als Bürgerin und Bürger, eine Rolle und eine Bedeutung, die von nichts anderem abhängt als von ihrer Staatsbürgerschaft, die sie normalerweise nicht ablegen können und die ihnen auch nicht entzogen werden darf. In einem so konstituierten regelbasierten Gemeinwesen gibt es kein Oben und kein Unten im Sinne einer Mehrheit, die alle Minderheiten unterdrückt und dominiert. Eine Bürgerin oder ein Bürger werden in einer Demokratie eben nicht nach bestimmten Kriterien wie Rasse, Geschlecht oder Religion klassifiziert und in eine Art Kastensystem gepfercht. Indem eine Bestimmung zwischen »wir« und »die« unterbunden ist, ist es auch nicht relevant, wer an der Spitze der Nahrungskette steht, da niemand mehr verspeist wird.

      Der Krieg aller gegen alle, von dem der Staatstheoretiker und Philosoph Thomas Hobbes im Leviathan 1651 spricht, beschreibt jenen (idealisierten, modellhaften) Urzustand des Faustrechts, in dem der Stärkste die anderen dominiert. Dieser stete Kampf, so Hobbes, zermürbt die vielen und raubt dem Gemeinwesen sein Potenzial. Denn an einem Tag obsiege ich im Kampf, aber schon am nächsten bin ich damit beschäftigt, nicht von einem anderen überwältigt zu werden, und am dritten Tag wiederum unterwirft mich ein anderer. Am vierten Tag dann geht das Spiel von vorne los. Um Angst und Unsicherheit zu überwinden, fordert Hobbes den Austritt aus diesem rauen und harten Naturzustand. Regeln und Gesetze orientieren sich an objektiveren Maßgaben als an der physischen Stärke, die es dem einen ermöglicht, sich über den anderen zu erheben. Der Mensch will nach Hobbes den Naturzustand allein schon deshalb überwinden, weil er niemals alle Situationen vorhersehen kann, in denen er als Gewinner oder als Verlierer vom Platz geht.

      Der Autokrat muss sich deshalb eine bestimmte Gruppe in der Gesellschaft zur Komplizin machen. Jene, die er am ehesten für bereit hält, seiner binären Weltanschauung (»Wir gegen die«) zu folgen. Das müssen nicht immer diejenigen sein, denen es ökonomisch besonders schlecht geht, wie eine landläufige Vermutung nahelegt. Gerade bei dem bereits erwähnten Brexit-Votum beispielsweise hat sich gezeigt, dass sich Angehörige aller sozioökonomischen Schichten von der Rhetorik der Befürworter eines EU-Austritts haben begeistern lassen.

      Autokratie ist der Rückfall in den Naturzustand, den Thomas Hobbes beschreibt. Nicht nur er, auch Jean-Jacques Rousseau und John Locke haben ihre Theorie einer guten und gerechten Gesellschaft auf dem Ausgang aus dem Naturzustand begründet. Das Faustrecht – das Recht des Stärkeren – generiert, so die Denker, Angst sowohl bei den Beherrschten als auch bei den Herrschern selbst, denn sie könnten ebenfalls von einem noch stärkeren Herrscher eines Nachbarreiches niedergerungen werden.

      Bereits in der Antike hat man versucht, sich auf gewisse gemeinsame Grundsätze der Kriegsführung zu verständigen, um Schwächere vor Stärkeren zu schützen. Der Stärkere sollte die Schwäche seines Nachbarn nicht ohne Not ausnutzen dürfen und ihn überfallen, seine Ernte niederbrennen, Reichtümer rauben, Frauen verschleppen und Männer versklaven. Wer einer so in Bedrängnis geratenen Nation zu Hilfe eilt, sagt der heilige Augustinus, der tut ein gutes Werk. Der Krieg, den er gegen den Unterdrücker führt, wird dadurch ein »gerechter Krieg«.

      Der römische Politiker und Redner Cicero pocht darauf, dass es Regeln geben muss, auch und gerade im Krieg, an die sich alle Parteien gebunden fühlen. Er spricht in De officiis von einem Band, das alle Glieder der Menschheitsfamilie miteinander verbinde. Unser natürlicher Empfindungsapparat sei so ausgestattet, dass er die Ebenbürtigkeit jedes Mitmenschen wahrnehmen könne und somit alles Entmenschlichende zu unterbleiben habe. Cicero setzt sich deshalb für ein strenges Folterverbot ein. Aber wir wissen, dass bis zum heutigen Tag gefoltert wird. Die Folter ist leider seit jeher ein erprobtes Mittel der Kriegsführung. Umso wichtiger ist es, uns zu vergegenwärtigen, dass wir mit Cicero einem der ersten Vertreter der Menschenrechte begegnen. Er macht deutlich, dass die Menschenrechte zu verbindlichen Regeln antreiben, die es einzuhalten gilt, um die Würde jedes Einzelnen zu schützen.

      Unsere heutige Demokratie und die von den Demokratien in der Epoche seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs miteinander aufgebaute Weltordnung verwirklichen Ciceros Postulat. Unsere Verfassungs- und Rechtsordnungen gründen auf der Anerkennung der Menschenrechte. Das Faustrecht, das Recht des Stärkeren, das Autokraten, die sich selbst gerne als Strongmen, als starke Männer, feiern, zum Taktgeber des Politischen verklären möchten, ist darin nicht vorgesehen.

      Ciceros Setzung ist keine religiöse. Das ist wichtig zu betonen, denn im Diskurs über den Ursprung der Menschenrechte wird auch darüber gesprochen und diskutiert, welche Rolle andere Quellen – unter anderem das Christentum – bei ihrer Festlegung gespielt hätten. Ich denke, es ist unstrittig, dass die christliche Anthropologie, die Lehre vom Menschen, bei der Ausformulierung des Menschenrechtsgedankens eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hat.

      Wie Ciceros wichtige Forderungen stammt auch der Grundsatz pacta sunt servanda aus der römischen Zeit: Verträge müssen eingehalten werden. Denn nur so kann Verlässlichkeit zwischen Menschen gestiftet und erhalten werden. Wenn wir heute von der regelbasierten internationalen Gemeinschaft sprechen, dann haben wir auch immer Cicero im Ohr: Wer einen Vertrag bricht, begeht ein Vergehen. Cicero geht sogar noch weiter, wenn er fordert, dass niemand seinen Feind belügen dürfe. Die Menschen schuldeten sich, schreibt er, selbst im schlimmsten aller Konflikte aufgrund des gemeinsamen Bandes, das sie qua ihres Menschseins verbindet, einen bestimmten Umgang, der durch nichts aufgehoben werden kann.

      Der Friedensvertrag nach dem verheerenden Dreißigjährigen Krieg, während dessen sich die verfeindeten Parteien unerbittlich niedergemetzelt hatten, wurde ausdrücklich unter der Bedingung geschlossen, dass sich alle Parteien verpflichten, ihn nicht zu brechen. In der Eingangsformel des Friedensvertrages wird festgehalten, dass er geschlossen wird, als ob es Gott nicht gäbe: Etsi deus non daretur. Religion, so haben die Parteien eingesehen, war die Ursache für die Polarisierung, die zum Krieg geführt hatte. Sie kann also nicht das Heilmittel gegen die Krankheit des Krieges sein, den sie selbst verschuldet hat. Der Vertrag gilt als erste Errungenschaft des neuzeitlichen internationalen Rechts.

      Für die »Wir-gegen-die-Anderen«-Mobilisierung, von der wir bereits als Kennzeichen autokratischer Politik gesprochen haben, funktionieren Religion und Nation als die zwei Schlüsseltreiber. Der Autokrat versichert dem Wir Zugehörigkeit und Identität, indem er immer wieder auf die gemeinsame Religion innerhalb seiner Nation hinweist. Daran hat sich bis heute nichts geändert: Xi Jinping predigt in der Volksrepublik China einen Kommunismus mit chinesischen Charakteristika. Damit begünstigt er die Han, Chinas größte Ethnie, neben der es 55 andere anerkannte Minderheiten gibt. Zu diesen Charakteristika gehört die Lehre des Konfuzius, die in einer der Kommunistischen Partei genehmen Fassung die Herrschaft der Partei mit den Mitteln des Kaiserreichs legitimieren soll. Auch der indische Premierminister Narendra Modi propagiert ein vollständig hinduistisches Indien und billigt damit unter anderem die Diskriminierung von rund 200 Millionen Muslimen, die in der größten Demokratie der Welt Tür an Tür mit Angehörigen anderer Religionen leben. Und in Ungarn hat Premierminister Viktor Orbán in der Coronakrise alle Macht an sich gerissen und damit die Verfassung endgültig ausgehebelt. Er sprach davor schon lange und ausgiebig darüber, dass Ungarn eine christliche Nation sei, die keine

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