Kindheitserinnerungen aus Meersburg. Bernhard Nessler
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Kindheitserinnerungen aus Meersburg - Bernhard Nessler страница 4
Der Cafébesitzer bot schließlich an, unser Wohnhaus und auch die Scheune auf der anderen Straßenseite zu kaufen. Es gab keinerlei Ausschreibung und kein offenes Verkaufsaufgebot. Es war im Vorhinein abgemachte Sache, dass er der Käufer sein sollte, und als der einzige Interessent konnte er den Preis diktieren. So musste der von ihm vorgeschlagene Preis akzeptiert werden. Es war ein Zwangsangebot und musste, nicht zuletzt auch unterstützt durch die Politik, angenommen werden, so ungünstig es auch war. Der Verkaufspreis reichte bei weitem nicht aus, um ein Baugrundstück außerhalb zu erwerben und ein Haus zu bauen. Dennoch wurde der Handel abgeschlossen.
Mutter hat später über die Szene beim Kaufabschluss berichtet: Nach dem, was sie erzählte, traf man sich dazu in der Gaststube des Strandcafés: die beiden Ehepaare Neßler und Weißhaar, der Notar und der Vertreter des Bürgermeisters. Man nahm an einem Tisch Platz, klärte den Vorgang, und es wurde unterschrieben. Der Käufer und seine Partei waren damit höchst zufrieden. Frau Weißhaar verließ den Tisch und kam zur Feier des Ereignisses mit einer großen Platte Torten zurück. Sie stellte sie auf den Tisch. Doch es gab, wie Mutter berichtete, keine Kuchenteller, kein Kuchenbesteck und auch keine Einladung zuzugreifen. „Mobbing" würde man zu diesem Verhalten heute sagen. Natürlich: mit Rebleuten, Landwirten von der Art meiner Eltern setzte man sich an diesem Ort sowieso nicht an einen Tisch. Man konnte sich ihnen gegenüber alles erlauben, zumal wenn sie auch politisch auf der anderen Seite standen. Meine Mutter hatte Frau Weißhaar schon als Mitschülerin in der Mädchenschule gekannt. Sie sei eine der Dümmsten gewesen, meinte sie. Doch nun gehörte sie zum Adel der Meersburger Hotel- und Gaststubenbesitzer, einem „höheren“ und auch politisch willfährigen Stand, der mit den Alteingesessenen möglichst nichts mehr zu tun haben wollte. Unser Haus jedoch - und dabei auch mein Geburtszimmer - wurden nach dem Verkauf dem Strandcafé buchstäblich einverleibt. Ein bloßer Mauerdurchbruch im 1. Stock erlaubte es, die Gaststube um unsere Wohnung zu erweitern. Heute noch ist das verifizierbar. Und der Wertgewinn des Cafés durch unser Haus ist nicht mehr zu beziffern.
Eine letzte Erinnerung aus der Zeit, in der mein Vater aus der Unterstadt ausziehen und aussiedeln musste, ist für mich, dass ich an einem Sommertag mit Tante Luis zur Baustelle für das neue Haus ging, um Vater und Onkel Emil, ihrem Mann, die Mittagssuppe zu bringen. Sie waren dabei, in härtester Handarbeit mit Pickel und Schaufel die Baugrube auszuheben. Das Haus stand dann schließlich in einfachster Ausführung da, d.h. nur mit den nötigsten Zimmern, ohne Bad, ohne Wirtschaftsraum für die Landwirtschaft, ohne Doppelfenster, ohne Toilettenspülung, ohne Anschluss an die Kanalisation und aus Geldmangel Jahre lang ohne Verputz.
3. Karline Schlosser
Ich war in meinen ersten Kindheitsjahren in der Unterstadt meist vom Morgen bis zum Abend bei Karline. Sie war eine nicht mehr berufstätige kinderlose „alte Jungfer“, und ich war ihr Hätschelkind. Wann immer es das Wetter erlaubte, saß ich mittags mit ihr auf dem Bänkle am See und fütterte die Möwen, während sie mit ihren Freundinnen tratschte. Sie alle kannten mich und nannten mich auch später noch wie sie: „s’Bernhärdle“. Sie sollte mich eigentlich nur stundenweise hüten, ebenso wie auch schon die Geschwister, wenn die Eltern keine Zeit hatten. Doch, wie ich mich erinnere, war sie immer nur für mich da. Und sie verwöhnte mich, wo immer sie konnte, trotz ihrer bescheidenen Verhältnisse. Täglich durfte ich mir bei Frau Schultheiss im Kolonialwarenladen nebenan eine Banane kaufen. Und es gab nichts Besseres für mich als das Rührei, das Karline für mich machte. Eines Tages kam ein Glasbläser in den Stadtgarten. Sie ging mit mir hin, um die Wunderwerke zu bestaunen, die er aus nichts hervorbrachte. Alles, was er machte, war für sie natürlich unerschwinglich teuer. Aber ich durfte mir dennoch ein Blumenväschen bei ihm bestellen und zusehen, wie er es aus einem Glasstengel hervorzauberte. An Weihnachten errichteten ihre Hauseigentümerinnen für sie einen Tannenbaum in ihrem Zimmer. Statt der sonst üblichen Glaskugeln bestand der Schmuck bei ihr nur aus in Silberpapier eingewickelten Walnüssen, den Silberfäden und einigen Kerzen. Nur mit mir zündete sie den Baum an, und das war dann eine ganz intime Weihnachtsfeier. Karline sang, während ich ihr Geschenk unter dem Baum auspackte. Einmal war es ein kleiner Tischpuppenwagen mit einem Püppchen darin. Meine Mutter regte sich darüber auf: „Was schenkt dir die alte Kuh denn so ein Mädchenspielzeug!“ Und es verschwand sogleich, als ich es nach Hause brachte. Die Beziehung zwischen Karline und mir litt darunter nicht. Wir gingen im Frühjahr, Sommer und Herbst täglich zusammen zu den Büschen am Hotel Schiff, um Blätter für ihr Rotkehlchen zu pflücken. Ich kümmerte mich mit ihr zusammen um es und brachte es wie sie zum Zwitschern. Es war auch für mich ein trauriger Tag, als es eines Morgens tot in seinem Käfig lag. Die größten Anforderungen stellte ich an sie, wenn wir zusammen „Pfarrerles“ spielten. Ein Stuhl diente als Altartisch, eine Weihnachtskarte mit einer Weihnachtskrippe als Altarbild. Ich war der Pfarrer und hielt die Messe. Karline war der Mesner, der die Kerze anzündete und mir Wasser als Messwein einschenkte. Aber sie repräsentierte vor allem auch die Gläubigen und musste an deren Stelle singen und laut beten.
Als ich etwas mehr als 4 Jahre alt war, bauten die Eltern ihr neues Haus in der Oberstadt. Wir zogen um, und ich musste in den Kindergarten. Doch ich ging immer noch, wann immer ich konnte, zu Karline. Erst ab 1940, als sie krank wurde, war ich nur noch ganz selten bei ihr. Meine Mutter musste mich schließlich sogar zwingen, sie hin und wieder zu besuchen und ihr eine kleine Aufmerksamkeit zu bringen. Sie war nun zu alt für mich. Auch lag sie fast nur noch im Bett. Schon lange hatte ich bemerkt, wie dünn ihr graues Haar geworden war, dazu das schlecht zusammengesteckte Haarnest und diese Runzeln im Gesicht, die fahle Haut, die zittrigen Hände. Sie ging, wenn überhaupt, nur noch tief gebückt. Am meisten störte mich aber der Altweibergestank im ganzen Zimmer. Einige Male ging die Mutter auch ohne mich zu ihr.
In ihrer Vergangenheit war sie ja Köchin im „Wilden Mann“ gewesen, das will etwas heißen. Der „Wilde Mann“ war das vornehmste Hotel am Ort, wunderbar gelegen, direkt am Wasser, weithin bekannt auch für seine Küche. Karline war dort sehr geschätzt. Frau Himmelsbach, die Tochter des ehemaligen Wilden-Mann-Wirtes, kümmerte sich in Karlines alten Tagen immer noch hin und wieder um sie, obwohl sie nun schon seit Jahren Lehrersfrau war und das Hotel längst in fremden Händen lag.
Für eine ganze Reihe von Leuten gehörte ich lange Zeit eher zu Karline als zu meiner Familie. Als sie im Februar 1941 starb, wurde ihr Leichnam im Leichenhäusle aufgebahrt. Meine Mutter musste mich zwingen, mitzukommen, um ihr die letzte Ehre zu erweisen und das Weihwasser zu geben. Sie war die erste Tote in meinem Leben, die ich sah. Ich erkannte sie nicht wieder. Ich war erst vor einem Monat Ministrant geworden und konnte an sich noch gar nicht ministrieren, schon gar nicht bei einer Beerdigung. Aber der Kirchenmesner, der meine Familie sehr gut kannte, bestimmte: Du wirst bei Karlines Beerdigung ministrieren. Das geschah dann auch. Ich musste nur das Weihrauchschiffchen halten und beobachtete am Rand des Grabes die ganze Beerdigung als einen sehr fremdartigen Vorgang, der mit der Person, wie ich sie kannte, gar nichts zu tun hatte. Später wunderte ich mich über meinen gefühllosen Abschied. Wie konnte das sein, wo diese Person doch Jahre hindurch alles für mich gewesen war. Was ich als Kind überhaupt nicht begriffen habe, das war das Alleinsein von ihr und dass sie vielleicht meinen häufigeren Besuch gerade in den letzten Lebensjahren gebraucht hätte. Doch musste ich mir daraus ein Gewissen machen?
4. Rückkehr in die Unterstadt
Der große Gewinn für mich, den der Neubau des Elternhauses in der Oberen Lehre mit sich brachte, waren die Freunde: 2 gleichaltrige Buben und 2 Mädchen aus dem Nachbarhaus. Wir gingen zusammen in die Kinderschule und waren sehr schnell untrennbare Spielkameraden. Die Unterstadt war ihnen fremd. Eines Tages hatten sie den Wunsch, dass ich sie ihnen zeige. Wir entschlossen uns an einem Nachmittag im Frühling 1938 dazu, als ich zum Spielen zu ihnen durfte. Wir gingen zunächst zur Schiffslände und beobachteten, wie das Dampfschiff von Konstanz anfuhr, an- und wieder ablegte, und wir folgten dem Schiff auf der großen Südmole bis zur Nebelhupe, wo die Schiffswellen heftig gegen die Steinblöcke