Kindheitserinnerungen aus Meersburg. Bernhard Nessler
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Doch interessant war für uns eigentlich nur das Hafenbecken auf der anderen Seite, wo Schiffe nur bei stürmischer See einfahren und landen durften. Da lagen die Gondeln, Fischerboote und in der Ecke neben der Ostmole, die das Becken begrenzt, sogar ein Zollboot. Das wollten wir uns ansehen, und so gingen wir zur Ostmole. Doch auf ihr fühlte man sich unsicher. Sie hatte nur auf der Ostseite ein Geländer, und die Molenoberfläche hatte ein rundes Profil. Man bekam auf der Seite ohne Geländer Angst, mit einem Fehltritt ins Wasser zu stürzen. Und wir hatten ja auch Lust, uns in unserem Übermut gegenseitig zu schubsen.
Schließlich gingen wir zur großen Hafenrampe vor dem Seehof. Dort konnte man sich gemütlich hinsetzen und auf der Seite zum Rieschen hin sogar bis zum Wasser hinabsteigen. Aber dort war im Augenblick Fischer Klingenstein mit seinen Fischernetzen beschäftigt und belegte mit ihnen die ganze Ecke bis hinab zum Wasser. Doch auf der anderen Seite Richtung Schiffslände konnte man auf dem zum Wasserspiegel hin abfallenden Mauerstück auch ans Wasser gelangen. Dort lagen mehrere Gondeln, ein abgetakelter Segel und ein Fischerboot. Wahrscheinlich gehörte es ebenso wie die Gondeln dem Fischer. Es war an diesem Nachmittag schönstes Badewetter aber noch keine Badesaison. „Ist das Wasser nicht schon warm genug zum Baden?“ fragten wir uns. „Ich will probieren, ob es schon warm ist!“ erkühnte ich mich vorzuschlagen und weil ich den Vorschlag gemacht hatte, musste ich ihn auch ausführen. Ich zog Schuhe und Strümpfe aus und tastete mich, nicht weit vom Fischerboot entfernt, auf der abschüssigen Rampe langsam nach unten, bückte mich am Rand, um ins Wasser zu greifen. Da geriet ich mit meinem vorderen Fuß auf den grünen Moosschlitt, der den Wasserrand säumte. Ich rutschte aus und glitt ins Wasser. Ich rutschte auf der Schräge weiter hinab und versank im Wasser bis zur Hüfte, dann bis zur Schulter. Unter den Füßen hatte ich keinen Boden mehr und begann zu zappeln, und ich schrie: „ich ertrinke“. „ Schwimmen!“, riefen die Freunde zurück. Aber das konnte ich noch nicht. „Hilfe“, schrie ich weiter. Die Freunde hatten offenbar schon begriffen und haben den Fischer gerufen. Der war sofort zur Stelle und rief mir zu: „Halte dich am Boot! Halte dich daran fest, ich ziehe dich heraus.“ Er manövrierte das Boot mit der Leine, so dass es sich unmittelbar neben mir befand. Ich hielt mich daran fest. Und er zog mich mit dem Boot nach vorne und half mir schließlich aus dem Wasser. Ich war schockiert. Er schimpfte auf mich ein. Doch seine Ermahnungen hörte ich nicht. Mit Hose und Hemd tropfnass bis auf die Haut ergriff ich Socken und Schuhe und lief davon, rannte durch die Unterstadt und die Steig hinauf bis nach Hause, ohne mich noch umzuschauen. Ich schämte mich nur, wollte mit niemandem reden, schämte mich, bis ich zu Hause war und die Mutter mich zitternd ins Bett steckte. Erst da kam ich zu mir und realisierte, was geschehen war: „Ich wäre ertrunken - nicht weit weg von der Spitalgasse, die ich den Freunden doch zeigen wollte, weil ich da auf die Welt gekommen bin.“
5. 1939-Jahr des Aufbruchs
1939 war nicht nur das ereignisreichste Jahr in meiner Kindheit. Im Verlauf dieses Jahres erweiterte sich auch das Feld meiner kindlichen Lebenserfahrung ganz substanziell. Die Welt und das Weltgeschehen drangen ein in den Umkreis meiner Erlebnisse und erweiterten den kindlichen Horizont über die Angelegenheiten der Familie hinaus. Das öffentliche Leben und die geschichtliche Wirklichkeit wurden zu wahrgenommenen Faktoren.
Das Jahr begann mit einem freudigen Familienereignis. Am 31. Januar wurde mein Bruder Albert geboren. Der Vater holte bei dieser Gelegenheit die Großmutter ins Haus, um den Haushalt zu führen. Sie kam und erzählte, sie habe beim alten Schloss noch den Storch gesehen, nachdem er das Kindle gebracht hatte. Ich glaubte so etwas schon lange nicht mehr. Die Großmutter: das war doch naiv von ihr, so etwas noch zu erzählen. Als die Mutter dann im Kindsbett lag, wurde ich krank und musste im Bett bleiben und verbrachte die Zeit im Bett neben ihr. Als Frau Schiefer, die Hebamme, kam, baute sie immer als erstes aus Kissen einen Sichtschutz auf zwischen der Mutter und mir und hieß mich schlafen. Ich schlief natürlich nicht, sondern „gickelte“ heimlich und sah, wie sie sich mit den Brüsten der Mutter beschäftigte und ihrem Geschlecht. Ich entdeckte verbotenerweise und überhaupt das einzige Mal in ihrem Leben ihre Intimsphäre, und ich konnte mir denken, dass die Geburt des Kindes damit zu tun hatte.
Für mich persönlich war in diesem Jahr zunächst bedeutsam, dass ich an Ostern endlich in die Schule kam. „Dumm gejährt", hieß es, denn ich war ja fast schon 7 Jahre alt, also aufgrund der damals gültigen Einschulungsregeln fast 1 Jahr älter als die meisten Mitschüler. Mein erster Lehrer war Himmelsbach. Er kannte mich schon lange durch Karline, die er mit seiner Frau, der Tochter des ehemaligen Wilde-Mannwirts, regelmäßig besuchte, und er nannte mich zwar weiter Bernhärdle wie sie. Aber er war für mich als Lehrer ein Fremder. Und er ging unfreundlicher mit mir um als mit gewissen Lieblingsschülern. Er war streng mit mir. Zur richtigen Erziehung gehörte für ihn der Rohrstock. Wegen mangelhafter Schönschreibleistungen erhielt ich von ihm schon in den ersten Wochen unvergessliche 4 Tatzen, 2 auf jede Hand. Es tat so weh, dass ich den ganzen Vormittag nicht mehr schreiben konnte. Und auch mein erstes Schulzeugnis, das ich von ihm bekam, war ganz und gar mittelmäßig. Ich hatte keine einzige 2. Gleich zu Beginn lernte man die schwierige Sütterlinschrift, etwas später dann die lateinische Normalschrift und beim Lesen die Druckschrift, die am einfachsten war.
Trotz allen Frustrationen ging ich gerne zur Schule. Bei den späteren Lehrern ging es mir dann allerdings auch besser, und ich hatte viel bessere Noten. Die Schule war natürlich vom ersten Tag an eine ganz neue Erfahrung: vor allem waren da neue Kameraden und dann dieser Stunde für Stunde geregelte Vormittag. Indes ging es da nicht nur darum, lesen,schreiben und rechnen zu lernen, sondern auch richtig „Heil Hitler“ zu sagen statt „Guten Tag“ oder „‘s Gott“ (= Grüß Gott!) und dazu den Arm richtig zu heben! Das gehörte zum guten Benehmen. Man konnte sich in der viel zu engen Schulbank mit den Klappsitzen den ganzen Vormittag hindurch kaum rühren, musste aber trotzdem still sitzen. Im Unterricht sollte man eigentlich nur zuhören. Strecken und etwas sagen durfte man nur, wenn man auch wirklich etwas wusste. Man hatte auf jeden Fall immer das zu tun, was der Lehrer sagte. Er war die alles wissende und alles entscheidende Person. Richtig oder falsch, gut oder böse, schön oder hässlich, was das jeweils war, das sagte er.
6. Die Kirchenrenovierung
Aber die Schule war für mich nicht das Ein und Alles. Es gab andere Erlebnisse, die mir noch wichtiger waren.
Die Eltern waren sehr katholisch. Die Pfarrkirche und alles, was dort geschah und angekündigt wurde, beeinflusste den familiären Tages- und Wochenverlauf viel mehr als etwa die Politik, zu der sie eine große Distanz wahrten. So war es auch für die Familie ein bedeutsamer Vorgang, als es im Frühjahr 1939 hieß, dass die Pfarrkirche renoviert werden solle und dass alle Gottesdienste für längere Zeit in die Unterstadtkirche verlegt würden. Mich interessierte diese Renovation von Anfang an in ganz besonderer Weise. Sie war für mich wohl die erste große Sensation, die ich erlebte und vielleicht ähnlich aufnahm wie Jugendliche von heute die "Star Wars"-Filme. Und ich verfolgte die Renovation in allen einzelnen Phasen. Da wurden gleich schon die Bänke ausgeräumt. Ringsum an den Wänden und auch mitten im Raum wurden Baugerüste aufgestellt. Man konnte die Baustelle jederzeit besuchen und feststellen, dass tatsächlich gewaltige Baumaßnahmen erfolgten. Als sie schon weitgehend vorangeschritten waren, wurde der Chorraum der Kirche wieder freigegeben und für die allmorgendliche Messe genutzt. Es war nun ein völlig veränderter Raum. Es war hell, wo zuvor eine einzige Düsternis herrschte. Anstelle der vorherigen Flachdecke gab es nun ein Gewölbe mit gotischen Zwickeln über den Fenstern. Der Hochaltar war bereits aufgestellt. Über den Altarstufen nun der Altartisch und ein Aufbau, der schon teilweise versilbert und vergoldet war. In der Mitte der goldene Hostientabernakel, darüber die Nische für die Aussetzung der Monstranz. Rechts und links gab es je zwei Nischen mit den Evangelisten. Diese Statuen waren auch vergoldet ebenso wie das große Wandkreuz über dem Altar. Welch eine Pracht! Ich habe die leeren Gold- und Silberfolienheftchen gesammelt, die anfangs noch auf dem Boden herumlagen und in denen es noch Spuren der aufgetragenen Gold-und Silberblättchen gab. Auf beiden Chorseiten waren provisorisch schon die Chorbänke aufgestellt, in denen die Gläubigen der