Evolution Bundle. Thomas Thiemeyer
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»Ja, warum …?« Jem beobachtete den Schwarm noch eine Weile, dann zuckte er die Schultern und wandte sich ab. »Ganz wohl ist mir trotzdem nicht. Ich finde, wir sollten das weiter im Auge behalten.« Er lächelte ihr zu. »Schau mal, es gibt auch gute Nachrichten.« Er deutete auf die Karte auf seinem Schoß. »In der letzten halben Stunde sind wir von hier bis hier gekommen. Wenn das so weitergeht, müssten wir eigentlich bald … ah, da vorne ist sie schon, siehst du?« Er deutete aus dem Fenster.
Lucie presste die Nase an die Scheibe. Zwischen den Bäumen war eine zweite Autobahn zu erkennen, die ihre kreuzte. Ein paar Schilder kamen in Sicht.
»Hier müssen wir raus«, rief Jem nach vorne.
»Schon gesehen«, antwortete der Kapitän. »Danke für die Erinnerung. Ich ziehe jetzt rüber. Haltet euch fest, es könnte ein bisschen holperig werden.«
Er griff ins Lenkrad und zog den Bus auf die rechte Seite. Rumpelnd fuhr er die Abzweigung hinab.
Diesmal hatten sie Glück, die Fahrbahn schien einigermaßen intakt.
Die Stadt war jetzt nicht mehr weit weg. Lucie konnte die schneebedeckten Gipfel dahinter erkennen. Ein faszinierender Anblick. Er erinnerte sie an einen Ausflug, den sie letzten Winter mit ihren Eltern gemacht hatte. Sie hatte das erste Mal in ihrem Leben auf Skiern gestanden.
Sie war so in Gedanken versunken, dass sie erst nach einer Weile bemerkte, dass Jem sie ansah. Als sie den Blick erwiderte, wandte er sich schnell ab.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Ach nichts«, sagte er. War das ein roter Schimmer auf seinen Wangen?
»Komm schon. Du hast mich doch angesehen.«
»Schon, ja …« Er knabberte auf seiner Unterlippe. »Ich habe mich gefragt, woran du wohl gerade denkst.«
»Ich habe mir ausgemalt, was wohl passiert wäre, wenn wir den Flieger tatsächlich verpasst hätten. Wenn die Signalstörung so schlimm gewesen wäre, dass wir mit dem nächsten Flugzeug hätten fliegen müssen.«
»Vermutlich wäre gar nichts passiert«, überlegte er. »Unsere Gastfamilien hätten uns vom Flughafen abgeholt, wir hätten eine interessante Zeit in den USA verlebt und uns wahrscheinlich nie wiedergesehen. Aber sicher kann man sich da natürlich nicht sein.«
Sie nickte. Ähnliche Gedanken waren ihr auch schon durch den Kopf gegangen. »Ich vermisse sie«, sagte sie leise. »Meine Eltern, meine ich. Anna, meine beste Freundin. Die Leute aus meiner Klasse. Na gut, nicht alle, aber doch die meisten.« Sie sah ihn an. »Der einzige Trost ist, dass ich dich kennengelernt habe.«
»Das stimmt …« Mehr sagte er nicht dazu. Er wirkte plötzlich richtig verlegen.
»Weißt du noch, wie wir aus dem Flugzeug zum ersten Mal die Berge gesehen haben?«
»Und ob«, antwortete er.
»Hätten wir gewusst, was auf uns zukommt, wären wir wahrscheinlich irgendwo anders hingeflogen. Jetzt ist es dafür leider zu spät.«
»Tja, aber ob es da besser gewesen wäre. Vielleicht ist Denver ja kein Einzelfall.«
»Auch wieder wahr …«
»Ich kann immer noch nicht glauben, dass wir in der Zukunft gelandet sind. Dieser Gedanke ist einfach so was von abwegig! Aber wenn das hier tatsächlich die Zukunft ist, dann muss wohl irgendwas in der Vergangenheit schrecklich schiefgelaufen sein.«
»Oh ja«, sagte sie und spürte, wie es ihr bei dem Gedanken die Kehle zuschnürte. »Was Arthur vorhin gemeint hat … ich frage mich wirklich, was aus meinen Eltern geworden ist. Die Vorstellung, dass sie nicht mehr am Leben sind …« Sie konnte nicht weitersprechen. Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Hey«, sagte Jem und legte einen Arm um sie. »Nicht traurig sein.«
Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter. Es war schön, jemandem zum Anlehnen zu haben.
»Was immer geschehen ist, es ist vor langer Zeit passiert. Vermutlich haben sie davon gar nichts mehr mitbekommen.«
»Glaubst du wirklich?« Sie schniefte.
»Ganz bestimmt.«
Lucie richtete sich wieder auf und sah Jem an. »Du wirkst immer so gefasst – so vernünftig. Gibt es denn niemanden, den du vermisst?«
»Natürlich«, erwiderte er. »Die Jungs aus meiner Gang. Klaus, Kevin, Marc … Sven. Ein paar meiner Schulkameraden – wobei die Zahl recht überschaubar ist – und natürlich meine Mom.«
Sie wischte eine Träne aus ihrem Augenwinkel. »Und was ist mit deinem Vater? Vermisst du ihn auch?«
An seiner Reaktion merkte sie, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte. Er nahm seinen Arm zurück und beugte sich zu seinem Rucksack runter. Seine Aura wechselte von Blau nach Grau. »Wir sind nicht gerade die besten Freunde«, sagte er knapp.
Ups, dachte Lucie. Da habe ich wohl in ein Wespennest gestochen. Wahrscheinlich war es besser, wenn sie nicht weiter nachbohrte. Doch als Jem jetzt mit einer Wasserflasche wieder auftauchte, begann er, von selbst zu erzählen.
»Wir sind im Streit auseinandergegangen. Vor einem halben Jahr hab ich dann erfahren, dass er wieder geheiratet und noch mal ein Kind bekommen hat.«
»Oh«, machte Lucie nur. Sie konnte sich vorstellen, was das für ein Schock gewesen war.
»Das war echt ein Schlag ins Gesicht, als er mir am Telefon davon erzählt hat.« Jem senkte den Kopf. »Ich dachte, wie kann er mir das antun? Ich kannte die Kleine ja nicht einmal und habe sie trotzdem gehasst. Bescheuert, oder?«
»Überhaupt nicht«, sagte Lucie. »Das hätte mir den Boden unter den Füßen weggerissen. Der Gedanke, meine Eltern könnten sich trennen und einer von ihnen bekäme noch mal ein Kind ….« Sie schüttelte den Kopf.
»Auf das Wiedersehen mit ihm habe ich mich dann allerdings schon gefreut«, gab Jem zu. Er wurde leiser. »Na ja, aber wie gesagt: Das liegt ja alles in der Vergangenheit …«
Lucie bemerkte einen traurigen Glanz in seinen Augen. So cool, wie er immer tat, war er nicht.
Sie überlegte, wie sie ihn trösten konnte, als sie einen plötzlichen Knall hörte. Der Bus machte einen Satz, als wäre er mit etwas kollidiert. Im selben Moment krachte es erneut. Bennett fluchte.
Lucie wollte sehen, was los war, wurde aber von seinem heftigen Ausweichmanöver wieder auf die Sitzbank geschleudert.
»Himmel, Arsch und Zwirn!«
Der Kapitän trat hart auf die Bremse. Es quietschte und rumpelte, dann schlingerte der Bus und blieb stehen.
Bennett blickte in den Rückspiegel. »Alles in Ordnung, dahinten?«
»Alles okay«, rief Jem. »Was zur Hölle ist denn da los bei euch?«
Statt einer Antwort öffneten die beiden Männer