Schlangen, Guillotinen und ein elektrischer Stuhl. Dennis Dunaway
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Obwohl ein Jahr jünger, war Vince ein ausgeprägter Charakter, zu dem ich mich augenblicklich hingezogen fühlte. Freunde zu gewinnen, schien für ihn mühelos zu sein. Er begab sich nicht auf die Suche, musste nicht mal einen Raum durchqueren. Er zog die Menschen mit seinem Magnetismus förmlich an.
Als wir uns begegneten, war seine Familie gerade aus Detroit nach Phoenix gezogen, was nur den letzten Umzug in einer ganzen Reihe von Wohnortwechseln bedeutete. Ein Junge, dessen Familie ständig umzieht, auf permanenter Durchreise ist, der lernt, wie man alte Freunde schnell vergisst und neue gewinnt. Doch manchmal ist die Anpassung auch überaus schwierig: Vince’ ältere Schwester Nickie etwa verarbeitete die Umzüge durch das Vermeiden jeglicher Form von Freundschaft. Damit verringerten sich die traurigen Abschiede, die sie ertragen musste.
Vince hingegen verhielt sich konträr zu seiner Schwester. Egal, wo auch immer er sich befand, behandelte er alle wie Freunde. Er unterhielt sich mit jedem über jedes beliebige Thema. Blitzschnell erkannte er, was sein Gegenüber hören wollte, und plauderte es aus, auch wenn er die Wahrheit ein wenig strapazierte. Man könnte sogar behaupten, dass ihm Übertreibungen zusagten. In seiner Welt war die gute alte Wahrheit viel zu langweilig, und so kleidete er sie in ein schilderndes Kostüm. Jedoch wusste er genau, wie weit er mit den Ausschmückungen gehen konnte.
Man muss bedenken, dass sich sein Vater, ein Luftfahrtingenieur, auch als Pfarrer engagierte. (Er war aber trotzdem ein cooler Typ, mit einer höchst interessanten Frisur und einem bleistiftdünnen Oberlippenbart, der ihn wie einen Spieler auf einem Schaufelraddampfer erscheinen ließ. Witzig: Auf vielen von Vince gezeichneten Skizzen trugen die dargestellten Personen Oberlippenbärte!) Von Haus aus mit einer gehörigen Portion Religion konfrontiert, glaubte Vince an ehrliches Verhalten und hätte demzufolge niemals gelogen. Das war jedoch nicht nur Folge des Respekts vor seinem Vater, auch Vince teilte denselben Glauben. Dennoch – ich habe schon darauf hingewiesen – hatte Vince ein ständiges Bedürfnis nach Übertreibung, was er als einfachen Weg empfand, um die Wahrheit ein wenig interessanter zu gestalten. Da ist nun mal nichts Verwerfliches dran!
Um seine Überzeichnungen glaubhaft wirken zu lassen, sprach er mit lässigem Selbstvertrauen und lachte oft dabei. Man gewann dabei den Eindruck, dass er ausdrücken wollte: „Wow, das kann ich selbst kaum glauben.“ Sein Lachen signalisierte allen – und möglicherweise auch ihm selbst –, dass es sich hier um schelmisches Gelaber handelte, nicht um ein ernsthaftes Gespräch. Und es gab noch einen Grund, warum man Gespräche mit Vince bis zum Ende genoss: Er stellte sich niemals über andere, wollte sich nie als einen besseren Menschen herausputzen.
Wir reden hier über den Teenager namens Vince und nicht über die bedrohliche Bühnenrolle namens Alice, also über den spindeldürren Jungen und sein entspanntes, aber trotzdem energisches Gebaren, den witzigen Typen mit einem unbeschränkten Repertoire an Storys.
In dem unaufhörlichen Schwall wundervoll übertriebener Geschichten wurzelt ein Teil meiner großen Sympathie für ihn. In dieser Fähigkeit liegt der Grund, warum er die Welt mit seinem Charme verzauberte.
Vince’ offenes Wesen und seine allgemeine Zugänglichkeit verstärkten unser enges Verhältnis. Wir waren beste Freunde. Uns verband das gemeinsame Interesse am Surrealismus und der Pop Art. Dadurch wirkten Vince und ich sogar so untrennbar, dass die Leute kaum über uns als Individuen sprachen, sondern uns als Gemeinschaft anerkannten.
Auch die Mädchen mochten uns, obwohl Vince und ich hinsichtlich des weiblichen Geschlechts verdammt schüchtern waren. Meine Wenigkeit verhielt sich damals mitleidserregend verklemmt. Als introvertierter Mensch schloss ich Freundschaften über andere. Dennoch wurde ich in die Kategorie „Netteste Persönlichkeit“ gewählt und stehe seitdem im Cortez-Highschool-Jahrbuch 1965. Allerdings fiel es mir schwer, das nachzuvollziehen, denn ich fühlte mich nie so beliebt. Ich bin mir sicher, dass der Football-Quarterback sich seitdem vor Verwunderung immer noch am Helm kratzt.
Im Kunstkurs schmiedeten Vince und ich Pläne für die Revolution. Wir saßen weit hinten und redeten leise über Künstler und Kunststile. Eines Tages zeigte mir Vince das berühmte Magritte-Gemälde von dem Geschäftsmann, dessen Gesicht von einem Apfel verdeckt wird. Jetzt ist mir klar, wie sehr das Werk Vince’ Stil der Darstellung schräger Charakter-Porträts beeinflusste. Doch es war auch gut möglich, dass wir uns in der nächsten Sekunde über den neusten Hit unterhielten, wie zum Beispiel „Surfin’ Safari“.
Ich stand auf Hot Rods, während Vince sportliche Autos favorisierte wie Volkswagens Karmannn Ghia. Egal, welches Traumauto man fahren würde, wir stimmten in einem Punkt überein: Auf dem Beifahrersitz musste Brigitte Bardot sitzen und diese spitz zulaufende Harlekin-Sonnenbrille sowie ein mit Punkten getupftes Kleid tragen, wobei ihre blonden Haare in der lauen Brise wehten.
Vince’ Redeschwall war von Fernsehreferenzen durchzogen. Er schaute alles: The Steve Allen Show, Twilight Zone – Unwahrscheinliche Geschichten, The Ernie Kovacs Show, Peter Gunn, die Serie Die Unbestechlichen, Ozzie and Harriet, The Andy Griffith Show, Meine drei Söhne und die Dick Van Dyke Show. Wenn das Programm um 22 Uhr endete, kam zuerst das Testbild eines Indianerhäuptlings, wonach man auf den verschneiten Bildschirm starrte. Vince behauptete, er sehe sich sogar das Testbild an.
An besagtem Tag im Kunstkurs wurden wir jäh in die Realität zurückbefördert, da wir die hinter uns lauernde Mrs. Sloan bemerkten.
„Ich hoffe, ich störe euch beide nicht“, grinste sie und stöpselte dabei einen tragbaren Plattenspieler ein. „Ihr beide denkt, ihr seid so hip. Ich möchte, dass ihr ruhig sitzt – falls das möglich ist – und euch das hier anhört.“
Sie reichte Vince ein Cover, auf dem ein Bohème-Pärchen mitten über die Straße einer verschneiten Stadt schlenderte. Der Typ schien gerade eine Runde „Taschen-Billard“ zu spielen, während sich das Mädchen bei ihm untergehakt hatte. Der Titel des Albums lautete The Freewheelin’ Bob Dylan.
Mrs. Sloan setzte die Nadel auf die Platte auf, und wir hörten eine angeschlagene Akustik-Gitarre und eine froschähnliche Stimme, die sozial bedeutende Fragen ansprach.
Wir hatten niemals zuvor so eine Ernsthaftigkeit in einem Song wahrgenommen. Vince lachte über die Stimme des Sängers, gab jedoch zu, dass es sich anscheinend um etwas Wichtiges handle.
Außerdem mussten wir uns geschlagen geben, denn unsere Kunstlehrerin hatte uns in puncto Coolness übertrumpft.
Nach all den Jahren trifft mich die Erkenntnis wie ein Blitz, dass diese Frau uns aus der Balance warf und auf einen recht eigentümlichen und wirren Pfad lenkte.
Mrs. Sloan war unbarmherzig und direkt. So eine Frau gab ihren Schülern keinen wohlwollenden und aufmunternden Klaps auf den Hinterkopf. Sie zeigte uns in aller Deutlichkeit, dass wir nicht unser volles Potenzial ausschöpften. Möglicherweise ließ sie sich gar nicht von unseren Stunts beeindrucken. Einmal kehrte Vince von der Toilette zurück, hatte sich von Kopf bis Fuß in Toilettenpapier eingewickelt und wankte wie eine unheimliche Mumie in die Klasse, die in schallendes Gelächter ausbrach. Mrs. Sloan nahm sich in aller Seelenruhe eine auf dem Tisch stehende Karaffe mit Eiswasser, schüttete sie ihm über den Kopf und meinte lapidar: „Touché!“
Den Rest des Tages fielen Streifen nassen Toilettenpapiers von Vince ab, der damit seinen Ruf als schick gekleideter Junge eingebüßt hatte. Aber auch Mrs. Sloan brachte einige Stunts. Eines Tages präsentierte sie der Klasse eine schwarze Tasche. „Stellt euch vor, ihr seid stockblind“,