Colombia Es Pasión!. Matt Rendell
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Doch die Wirtschaft erwies sich als robust. In den 1980er Jahren, als Hyperinflation und Rezession in Lateinamerika grassierten, bildete Kolumbien mit 30 Prozent Inflation und 1,4 Prozent Wirtschaftswachstum eine Ausnahme in der Region. Dennoch, als die Weltbank und der Internationale Währungsfond der Hemisphäre eine komplette wirtschaftliche Runderneuerung verordneten, blieb Kolumbien nicht verschont. Und so wurden im Februar 1990 – Nairo Quintana war damals zwei Wochen alt – Einfuhrlizenzen aufgehoben, Abgaben drastisch reduziert, der Arbeitsmarkt dereguliert und die kolumbianische Wirtschaft für internationale Investitionen geöffnet. Was durch die geschwächte Industrie verloren ging, wurde durch den gestärkten Handels- und Dienstleistungssektor mehr als kompensiert. Zumindest in den Städten. Auf dem Land indes gediehen vornehmlich für den Export bestimmte Erzeugnisse wie Ölpalmen, Holz, Kakao und Obst, und die Inflation trieb die Preise für Treibstoff, Energie und Agrochemikalien in die Höhe, bis sie nicht mehr erschwinglich waren für die Kleinbauern der Nation, die campesinos, von denen zwischen 1991 und 1993 eine Viertelmillion ihre Beschäftigung verlor.
Um die Dinge weiter zu verkomplizieren, wurde eine neue modernisierende, inklusive politische Verfassung aufgesetzt, um das alte Zweiparteiensystem zu reformieren. Als sie 1991 in Kraft trat, übertrug sie politische Macht an die Regionen, finanziert durch Gelder aus der Hauptstadt, die sich auf acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts beliefen. Guerillas und paramilitärische Gruppen in entlegenen Regionen rissen sowohl das Geld als auch die Macht an sich. Der Staat endete als hauptsächlicher Geldgeber für seine eigene Zersetzung.
Die größte der Rebellengruppen, die Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC), zu Deutsch die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens, die sich zum Ziel gesetzt hatte, den Staat zu übernehmen und nichts zu tun, was sie in einem kohärenten Manifest hätte formulieren können, verfügte bereits über reiche Einnahmequellen aus Entführungen, Erpressung und Drogenhandel, bot Truppen von eintausend Mann Stärke auf und überwältigte ganze Militärbasen. Unzureichend bewaffnet, ebenso ausgebildet und ein ums andere Mal gedemütigt, schlossen Teile des Militärs Bündnisse mit den paramilitärischen Gruppen, die mit der FARC um die Kontrolle des Drogenhandels buhlten. Im August 1998 bekam Andrés Pastrana, Sampers Nachfolger im Präsidentenamt, von seinem Oberbefehlshaber zu hören: »Herr Präsident, wir verlieren den Krieg.«
Zwischen 1996 und 2001 zogen eine Million kolumbianische Staatsbürger ins Ausland. Viele Landbewohner flohen in die Städte. Eine kleine Minderheit entschied sich, gefangen von Geografie oder dem Traum vom leicht verdienten Geld, den Lebensunterhalt mit illegalem Drogenanbau oder als Teil der verbotenen bewaffneten Gruppen zu bestreiten. Bis 2000 war Kolumbien der weltgrößte Erzeuger von Kokablättern. 30 Prozent der Städte und Dörfer waren in der Hand der FARC oder von dessen Guerilla-Rivalen, der Nationalen Befreiungsarmee (ELN), weitere 30 Prozent standen unter der Kontrolle paramilitärischer Gruppierungen. Schätzungen zufolge zählte die FARC 18.000 Kämpfer, die ELN weitere 6.000 und die Paramilitärs zwischen 10.000 und 14.000, vielleicht waren es aber auch weit mehr: 2010 behauptete Präsident Álvaro Uribe, dass in seiner achtjährigen Amtszeit 52.000 Subversive jeglicher Couleur die Waffen niedergelegt hätten.
Die Demobilisierung illegaler bewaffneter Gruppen war nur ein Teil einer bemerkenswerten Wende. Kolumbien hat eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht. Heute ist es ein komplexes, multikulturelles, einkommensstarkes Land mit einer vielfältigen Bevölkerung, einer lebendigen öffentlichen Sphäre, einer kämpferischen und unabhängigen Presse und einem Freihandelsabkommen mit den USA; es versorgt die Welt mit Avocados und Bananen, Kaffee, Schnittblumen und Rohöl – und auch mit Tanz, denn Salsa verdankt einen Großteil seiner globalen Verbreitung der kolumbianischen Auswanderung. Kolumbien ist nicht nur der weltgrößte Erzeuger von Smaragden, sondern exportiert außerdem Gold, Silber, Platin, Nickel und Coltan. Hätte die Geschichte einen anderen Weg genommen, würde die Welt wohl mit dem Namen Kolumbien sogleich bunte Orchideen, Kolibris und Amphibien assoziieren. Der Biologe E. O. Wilson betonte, dass Kolumbien aufgrund seiner Artenvielfalt zu »den ›Megadiversitäts‹-Ländern der Erde gezählt werden sollte, mit einer Fauna und Flora, mit der es allenfalls Brasilien aufnehmen kann«.
Ausländische Investoren und Touristen zieht es in Strömen in seine westlich angehauchten Städte und an seine Bilderbuchstrände. Die Radsportler Peter Sagan und Chris Froome waren nur zwei von 3,1 Millionen Besuchern aus Übersee im Jahr 2014. Unterdessen verkündete die internationale Presse: »›Lebt wohl, Waffen !‹ – Entwaffnung der FARC in Kolumbien läutet neue Ära ein« (New York Times), »Kolumbien – eine transformierte Nation« (Miami Herald), »Kolumbien: vom Failed State zu Lateinamerikas Powerhouse« (Daily Telegraph). Seit Dezember 2015 werden Reisende aus Kolumbien, einst unerwünscht, auch im Schengen-Raum willkommen geheißen, ein Visum ist nicht erforderlich.
Es ist schwer vorstellbar, dass die Erfolge im Radsport in dieser dramatischen Wende keine Rolle gespielt hätten. Seit Rigoberto Urán im Jahr 2006 nach Europa ging und Nairo Quintana im Jahr 2010 die Tour de l’Avenir gewann, haben sich zahlreiche talentierte kolumbianische Fahrer in der UCI WorldTour und auf den Fernsehschirmen der Welt hervorgetan. Einer der wichtigsten Kanäle für diesen Talentfluss war das Radsportprojekt, das unter der Ägide einer nationalen Rebranding-Kampagne namens »Colombia Es Pasión« ins Leben gerufen wurde – »Kolumbien ist Leidenschaft«.
Der Leiter der Kampagne war Luís Guillermo Plata, der unter Präsident Álvaro Uribe (2002 bis 2010) den Vorsitz von ProExport innehatte – der Regierungsbehörde, die dafür verantwortlich war, den kolumbianischen Tourismus und Handel anzukurbeln. In einem Restaurant in Bogotás Nobelbezirk Usaquén erläuterte er mir die Entstehung der Initiative: Als wir 2002 an die Macht kamen, drohte Kolumbien zu einem Failed State zu werden. Man konnte so ziemlich jeden Indikator heranziehen: Wo oben gut ist, waren wir unten, und wo unten gut ist, waren wir oben. Uribe begann, Dinge zu verändern. Um 2005 herum, nach knapp drei Jahren in der Regierung, erreichten wir den Punkt, an dem sich die Gegebenheiten signifikant veränderten. Aber die internationale Wahrnehmung hielt nicht Schritt. Also überlegten wir: Wie können wir diese Diskrepanz in der Wahrnehmung schließen? Daher riefen wir Colombia Es Pasión ins Leben.
Die Idee war, etwas Einzigartiges zu finden, etwas sehr Kolumbianisches, eine Marke, die wir in vielen Bereichen nutzen konnten. Man macht beispielsweise ein Hemd und sagt: »Hergestellt in Kolumbien mit Leidenschaft«. Oder man verkauft Kaffee oder Obst oder was auch immer und sagt: »Angebaut in Kolumbien mit Leidenschaft«. Und das wurde zum Slogan des Dachverbands für Tourismus, Investitionen und Handel.
Wir riefen die Kampagne irgendwann 2005 ins Leben, und Coldeportes – quasi das Sportministerium – sagte: »Warum picken wir nicht einen Sport heraus und nutzen ihn, um für Kolumbien zu werben?« Ich sagte: »Tolle Idee. Wir sind ganz gut im Fußball, aber wir sind nicht Brasilien oder Argentinien. Der einzige Sport, in dem wir wirklich herausragend sind, ist der Radsport. Lasst uns eine Mannschaft sponsern.«
Nairo Quintana, Esteban Chaves, Darwin Atapuma, Jarlinson Pantano, Sergio Luís Henao, Fabio Duarte und Sergio Higuita durchliefen allesamt Colombia Es Pasión bzw. dessen Nachfolger 4-72 Colombia und Manzana Postobón. Sie trugen dazu bei, die Präsenz kolumbianischer Fahrer in WorldTour-Teams zum Normalzustand zu machen. Aus Colombia Es Pasión gingen später noch zwei weitere Teams hervor, Colombia und Claro-Coldeportes, die wiederum Sebastián Henao und die Sprinter Fernando Gaviria und Álvaro Hodeg hervorbrachten.
Die Erfolge all dieser Fahrer stellen eine Form von Soft Power dar, die dazu beitrug, die Integration des Landes in die Weltwirtschaft voranzutreiben. Die Ironie ist, dass die meisten der kolumbianischen Radprofis in der WorldTour – die große Mehrheit, wenn man ihre Eltern und Großeltern mit einbezieht – einer sozialen Gruppe entstammen, deren Lebensweise gerade nicht der allgemeinen Vorstellung von Wachstumsimpulsen und florierender Wirtschaft entspricht: die der campesinos, der Kleinbauern, zumeist Bewohner von rückständigen Familienfarmen auf wenig ergiebigem Land, wo religiöser Glaube bis heute tief verwurzelt und individuelle Freiheit traditionell größeren Gemeinschaftsstrukturen untergeordnet