Nestwärme, die Flügel verleiht. Stefanie Stahl

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Nestwärme, die Flügel verleiht - Stefanie Stahl

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Erfahrungen mit unseren Eltern sind durch eine Art doppeltes Erleben geprägt. Wir lernen sozusagen die zwei Seiten einer Medaille gleichzeitig kennen: Einerseits sind wir »Opfer« oder, neutraler ausgedrückt, »Empfänger« der Erziehungsbemühungen unserer Eltern. Andererseits lernen wir auch, wie es ist, »Täter« beziehungsweise »Erziehungsausübender« zu sein, weil die Eltern automatisch auch unser Vorbild sind, wenn wir selbst einmal Kinder haben. Wir spüren beispielsweise als Kind, wie schlimm es ist, von den Eltern beschimpft zu werden, wenn sie uns richtig anmeckern. Trotzdem lernen wir in dieser Situation beiläufig, am Vorbild unserer Eltern, »die Kunst« der Beschimpfung. Beides ist in uns abgespeichert. Unbewusst lernen wir also in einer Doppelstruktur. Auf der einen Seite sind wir als Kind Empfänger der Erziehungsbotschaft unserer Eltern und auf der anderen Seite lernen wir von ihnen zugleich, wie die Elternrolle auszufüllen ist. Als Kinder können wir uns gegen diese doppelte Botschaft nicht wehren. Unsere Eltern sind unser Kosmos, unser erster Einfluss und unsere große Liebe. Und sogar, wenn wir ganz bewusst entscheiden: »Ich mache es NIEMALS wie meine Eltern«, klappt das häufig nur für eine gewisse Zeit. Unter Druck oder in besonders stressigen Situationen verfallen wir in die gelernten Muster. Denn auch wenn wir noch so sehr in den Widerstand gehen, ist diese Doppelprägung in uns verankert und blitzt immer wieder durch. Es kann aber auch passieren, dass wir, im festen Vorsatz, es niemals zu machen wie unsere Eltern, in ein extremes Gegenteil verfallen und hierdurch vielleicht »zu viel des Guten« tun. Fühlten wir uns möglicherweise daheim vernachlässigt, neigen wir in diesem Fall zur Überbehütung unserer Kinder.

       Genau aus diesem Grund ermöglicht uns erst ein tieferes Durchdringen der eigenen Geschichte, freier zu sein und die Weitergabe unglücklicher Familienmuster nachhaltig zu durchbrechen.

      Dabei muss die Kindheit gar nicht schlecht gewesen sein: Die meisten Menschen haben auch viel Schönes mit ihren Eltern erlebt, das sie gern an ihre Kinder weitergeben. Aber jeder hat auch ein kleines oder sogar größeres Päckchen von negativen Prägungen aus der Kindheit zu tragen. Es gibt nämlich keine perfekten Eltern. Und wenn sie perfekt wären, wäre es vielleicht auch nicht so toll. Wer will schon perfekte Eltern haben?

      Jeder von uns weist auch Kindheitsprägungen auf, die nicht so günstig sind. Und je bewusster wir uns dieser problematischen Prägungen sind, desto weniger laufen wir Gefahr, diese an unsere Kinder weiterzugeben. Dies sehen wir immer wieder bei unseren Klienten, die so mutig sind, sich mit ihren eigenen Geschichten zu konfrontieren, und so den Weg dafür ebnen, dass ihre Kinder bessere Erfahrungen machen dürfen als sie selbst. Zudem ist dein Kind anders, als du es warst. Es braucht vielleicht etwas ganz anderes, als für dich selbst in deiner Kindheit wichtig war. Vielleicht mehr Zuwendung, vielleicht mehr Freiheit, vielleicht mehr Grenzen. Die Fähigkeit, dies zu sehen, dein Kind in seiner Persönlichkeit zu akzeptieren und darauf einzugehen, erlangst du nur, wenn du den Autopiloten und die Prägungen deiner Herkunftsfamilie erkennst und durchbrichst.

      GRUNDLAGEN DES LEBENS: BINDUNG UND AUTONOMIE

      Ob du es willst oder nicht, ob du es so gewählt hast oder nicht, ob du es dir zutraust oder nicht – mit dem Tag der Zeugung deines Kindes, spätestens mit dem Tag der Geburt, bist du eine Beziehung eingegangen. Sobald das Baby auf der Welt ist, hast du die Erziehungsverantwortung für ein kleines Menschenkind. Als Mutter oder Vater müssen wir keinen Erziehungsführerschein machen. Kein Mensch prüft, ob wir für die Aufgabe »Kindergroßziehen« geeignet sind. Man macht es eben, so gut wie man kann und vielfach auch wirklich gut.

      Dennoch ist es genau dieses intuitive Tun, welches auch unseren unbewussten Programmen und Verhaltensmustern Tür und Tor öffnet. Man kann gar nicht überschätzen, wie sehr unsere Lebenserfahrungen unsere Sicht auf die Wirklichkeit – und somit auch auf unsere Kinder – beeinflussen. Beispielsweise wirken unsere frühen Beziehungserfahrungen mit unseren Eltern wie eine Blaupause für alle weiteren Beziehungen in unserem Leben. Mit allen guten und weniger guten Facetten. Meist geschieht dies völlig unbewusst. Wenn wir als Kinder zum Beispiel gelernt haben, immer vorsichtig zu sein, weil uns sonst etwas passieren könnte, werden wir höchstwahrscheinlich diese latente Lebensangst auch an unsere Kinder weitergeben. Je genauer wir erkennen, was uns geprägt hat, desto besser können wir als Erwachsene frei darüber entscheiden, was wir als richtig und falsch empfinden. Wir sind dann sozusagen nicht mehr die Sklaven unserer unbewusst erlernten Verhaltensmuster und Einstellungen, sondern können frei wählen.

       Wir gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass wir intuitiv wissen sollten, wie man einen kleinen Menschen großzieht, und sprechen dann gern vom elterlichen Bauchgefühl.

      Um selbstbestimmter, gezielter und entspannter erziehen zu können, wollen wir uns die tragenden Säulen der Beziehungsfähigkeit einmal genauer anschauen. Die zwei wichtigsten Grundbedürfnisse in unserem Leben sind:

       das nach Zugehörigkeit-Bindung auf der einen Seite

       und das nach Autonomie-Selbstständigkeit auf der anderen.

      Wie gut wir diese Bedürfnisse leben können, hängt zu Beginn unseres Lebens vor allem von unseren nächsten Bezugspersonen ab – meist sind dies unsere Eltern.

      Die Art und Weise, wie unsere Eltern mit uns umgehen, hinterlässt tiefe Spuren in unserem Gehirn. Wir Menschen kommen nämlich mit einem unfertigen Gehirn auf die Welt. In den ersten sechs Jahren unseres Lebens entwickelt es sich ganz gewaltig. Diese Entwicklung verläuft in einem engen Wechselspiel mit unserer Umwelt. Alles, was wir in dieser Zeit lernen, hinterlässt tiefe Spuren in unserem Gehirn. Unsere Nervenzellen verknüpfen sich zu riesigen Datenautobahnen, grundlegende Verhaltens-, Fühl- und Denkmuster werden geprägt. Die ersten Beziehungserfahrungen mit unseren Eltern programmieren unser Gehirn in Sachen Beziehungen. Aus diesem Grund sind die ersten Lebensjahre so besonders prägend für unser gesamtes Dasein. So erwerben wir auch in den ersten zwei Lebensjahren das sogenannte Urvertrauen. Menschen mit Urvertrauen können in sich selbst vertrauen und zudem ein grundsätzliches Vertrauen in andere Menschen aufbringen. Sie haben in der Beziehung zu ihren ersten Bezugspersonen gelernt, dass Bindung und Autonomie gut nebeneinanderstehen können. Diese Gewissheit ist in ihrem Gehirn tief verankert und schenkt ihnen ein Gefühl von innerer Sicherheit und Selbstvertrauen.

       Wir Menschen brauchen zum Überleben sowohl Bindung als auch Eigenständigkeit. Das gilt für Väter, Mütter und Kinder gleichermaßen.

      In unseren ersten zwei Lebensjahren ist die Beziehung zu unseren Eltern sehr körpernah. Hier geht es ums Wickeln, Getragenwerden, Baden, Anziehen, Füttern und Schmusen. Wir erleben also mit und durch unseren ganzen Körper, ob wir angenommen und geliebt werden. Deswegen speichert sich das Urvertrauen nicht nur im Gehirn, sondern auch als eine tiefe körperliche Empfindung ab, als ein Gefühl, das man mit: »Ich bin okay! Ich bin willkommen!« beschreiben könnte.

      Am Anfang unserer Entwicklung steht die Bindung absolut im Vordergrund. Im Mutterleib sind wir völlig gebunden und verfügen über null Autonomie. Dann kommen wir auf die Welt und werden entbunden. Finden wir in dieser neuen Welt keine Bindungsperson, die sich unserer erbarmt, dann sterben wir.

      Aber wir kommen nicht nur mit einem angeborenen Bindungswunsch auf die Welt, sondern auch mit einem angeborenen Erkundungsdrang. Wir wollen uns zu selbstständigen Menschen entwickeln. Kleine Kinder sind unheimlich stolz, wenn sie etwas ohne die Hilfe von Mama und Papa hinkriegen. Der Ausruf »Selber machen!« gehört bei vielen kleinen Kindern zum frühen Wortschatz.

       Das Bedürfnis nach Bindung ist ein existenzielles psychisches Grundbedürfnis, das genetisch tief in uns verankert ist.

      Unsere ganze Entwicklung richtet sich also darauf aus, dass wir einerseits immer mehr Fähigkeiten erwerben, um uns binden zu können, und

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