Eisaugen. Margit Kruse
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Ostern! Sie durfte gar nicht daran denken, dass sie das diesjährige Osterfest ohne Partner verbringen würde. Sie liebte solche Feiertage, wie Ostern und Weihnachten, und war krampfhaft besessen, alte Traditionen unbedingt zu erhalten. Wie eine Verrückte färbte sie jedes Jahr zu Ostern Hühnereier bunt, füllte für sämtliche Verwandte grünbegraste Osterkörbchen und schmückte ihr Zuhause mit unnötigem Klimbim. Im ersten Jahr ihres Zusammenlebens mit Bertl war er entzückt über ihr Engagement gewesen, hatte sich gierig den selbst gebackenen, mit Mandeln verzierten Osterzopf in den Mund gestopft und mittags den köstlichen Lammbraten. Die vielen mit Liebe gebackenen Osterhasen und Lämmer hatte er sich mal eben während des Fernsehens einverleibt. Mit einem Biss hatte er den mit feiner Kuvertüre überzogenen Kopf eines solchen Lämmchens oder Häschens verschlungen und den Rest gleich hinterhergeschoben. Sein Osterkörbchen war bereits am Karsamstag ratzeputz leer. Die Süßigkeiten – sie bekam bei Hertie 20 Prozent Personalrabatt – hatten ihm einfach zu gut geschmeckt.
Allerdings hätte ihr auffallen müssen, dass im letzten Jahr zu Ostern bereits alles anders war. Seine Gier auf alles österlich Essbare war zwar geblieben. Sie bemerkte jedoch, dass er sich am Karfreitag, heimlich, als er sie schlafend vor dem Fernseher wähnte, ein Würstchen, mickriger noch als er selbst, genehmigt hatte. Nicht einmal an einem einzigen Tag im Jahr hatte er auf Fleisch verzichten können! Wenn er es schon nicht, wie sie, aus religiöser Überzeugung tat, hätte er es wenigstens ihr zuliebe lassen können. Und wie stellte er sich am letzten Ostersonntag an, als er die im Garten versteckten Ostereier suchen sollte. Er sei doch nicht bescheuert, sich in der Eiseskälte zu bücken, um Eier aufzuheben, meinte er. Im ersten Jahr war er, trotz Regen, total verliebt mit seinem Osterkörbchen unter die ausladenden Tannen gekrochen, um ja jedes Ei zu finden, das Margareta versteckt hatte.
Na ja, das Thema war erledigt. Bertl war Vergangenheit, sein schöner Garten ebenfalls. Keine Eierverstecke mehr und kein Eiersucher.
Bertl hieß eigentlich Friedbert, doch in einer ihrer ersten stürmischen Liebesnächte hatte sie ihm zwischen heißen Küssen, in einem Anflug größter Leidenschaft, zärtlich »Oh, Bertl!« ins Ohr gehaucht. Von da ab hieß er Bertl. Zuerst nur bei ihr, später bei ihren Eltern und schlussendlich auch bei seinen Freunden und Kollegen.
Als Margareta den kleinen Nebeneingang des Friedhofs, der gleich hinter der Siedlung lag, passierte, atmete sie tief durch, schloss kurz die Augen und sagte sich: Nie wieder! Nie wieder wollte sie sich verlieben. Würde sie noch einmal mit einem Mann zusammenkommen, wäre das Wort ›Liebe‹ aus ihrem Wortschatz gestrichen. Aus diesem Grund könnte sie auch nicht mehr verletzt werden. Und wenn sie wieder mit einem Mann in die Kiste steigen würde, wozu sie durchaus bereit wäre, geschähe das nur aus purer Lust. Anschließend müsste er seine Habseligkeiten schnappen und ganz schnell das Weite suchen. Jawohl!
Nach einigen Metern erreichte sie den Hauptweg und bog nach links in Richtung Trauerhalle ab. Wie weit ist es mit mir gekommen?, fragte sie sich. Nun machte sie schon zum dritten Male einen Spaziergang über den großen Friedhof und fand es auch noch schön. Bis vor Kurzem hatte sie mit ihrer Freundin Corinna über Frauen, die dauernd ihre Zeit auf dem Friedhof totschlugen, gelacht. Diese beschuldigt, sich dort bloß einen neuen Kerl anlachen zu wollen, weil der alte viel zu früh verstorben war. Der Friedhof: ein Anmachort unter dem Deckmantel des Trauerns, sozusagen. Vor wenigen Wochen wäre sie, statt sinnlos hier herumzuschlendern, lieber durch die Einkaufsstraße der Innenstadt gegangen, um zu shoppen. So weit hat Bertl mich also gebracht, dass ich hier, in dieser feuchten, nach Tannen duftenden Luft Entspannung suche, dachte sie kopfschüttelnd. Sie nannte diese Friedhofsgänge Selbstfindungsrunden.
Der breite Hauptweg war fast menschenleer. Hier und da sah man durch die dichten Sträucher am Wegesrand Leute, die an den Gräbern ihrer Lieben Ordnung schafften. Sämtliche Bänke waren wegen der unangenehmen Endwintertemperatur verwaist.
In weiter Ferne konnte sie rechts die Trauerhalle erahnen. Davor standen zwei Kranzwagen, fertig mit bunten Kränzen beladen, zur Abfahrt bereit. Eine Trauerfeier war wohl gerade zu Ende. 50 Meter weiter und drei Minuten später sah sie jemanden und musste schmunzeln. Dieser schmächtige Kerl war vom einfachen Sargträger zum Späher aufgestiegen und ging dem Trauerzug ungefähr 30 Meter voraus. Ein Späher, welche Wahnsinnsverantwortung! Er musste für freies Geleit des Trauerzuges sorgen, indem er mit ernstem Gesicht vorausschritt und die Lage peilte. Alles nur Show. Was sollte sich wohl dem Trauerzug in den Weg stellen? Jetzt, nur mehr wenige Meter von ihm entfernt, konnte sie bereits seine eiskalten blauen Augen sehen, mit denen er ihren Blick suchte und fixieren wollte. Er erkannte sie und nickte kurz. Mehr war nicht drin. Ein Späher hatte die Klappe zu halten und seine Arbeit zu verrichten. So ähnlich wie die Beefeaters vor dem Buckingham Palast. Wenn sie ihn nicht kennen würde, müsste sie sich vor ihm fürchten. Obwohl Margareta ihn bereits seit ihrer Kindheit kannte, hatte sie bis heute kein einziges Wort mit ihm gewechselt. Bereits als Jugendlicher war er ein Exot gewesen, ein verschüchterter Außenseiter, den man nirgendwo für voll nahm. Als wäre es gestern gewesen, sah sie ihn vor sich, wie er jeden Abend in einem Pulk älterer, alkoholisierter Männer vor der Trinkhallen-Pommesbude stand, mit einer Bierflasche in der Hand. Seine Eisaugenblicke starrten ängstlich herum. Die Kumpel lachten und scherzten über ihn, klopften ihm auf die schmalen Schultern, spendierten ihrem Hofnarren ein weiteres Bier und eine Zigarette, damit er ja noch blieb und sie sich über ihn lustig machen konnten.
Seine Haare waren inzwischen ergraut, ansonsten hatte er sich kaum verändert. Margareta vermutete, dass er zahnlos war, da sein Mund wie verschnürt und nach innen gezogen aussah. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn jemals mit einer Frau zusammen gesehen zu haben. Wer wollte schon so einen kuriosen Typen? Einen, der mit 16 wegen der vielen Ehrenrunden noch in der siebten Klasse gesessen hatte, weil sein Hirn wie ein Sieb war. Mit Gelegenheitsarbeiten schlug er sich seit seiner Jugend durch und war mittlerweile Späher eines Bestattungsunternehmens. Voller Stolz schritt er in seinem dunkelblauen Plüschmantel die Wege des Friedhofs entlang. Mit dem Job konnte er keine Familie ernähren, ja, nicht einmal sich selbst. Sie musste wieder schmunzeln. Könnte ich mit meinen 1.000 Euro netto etwa eine Familie durchbringen?, überlegte sie. Das hat eine Frau auch gar nicht nötig, würde ihre Mutter jetzt sagen. Eine Frau sollte mit dem unterwürfig gehauchten Ja vor Standesbeamten und Kirchenaltar ihren lebenslänglichen Hausfrauenjob besiegelt haben. Dieser beinhaltetet die Vollversorgung, bis der Tod – und nur der Tod – sie von ihrem Versorger schied.
Als sie sich auf gleicher Höhe befanden, konnte sie ein kaum merkliches Lächeln auf seinen Lippen erkennen. Sie nickte ihm freundlich zu und wunderte sich einmal mehr über solch eiskalt blickende, hellblaue Augen. Um nicht den Trauerzug passieren zu müssen, schlug sie den kleinen Weg links ein. Versteckt am Wegesrand blieb sie stehen, um die Trauergesellschaft, die soeben hüstelnd und schniefend an ihr vorbeizog, zu beobachten.
Ihr Blick blieb an dem mit Rosen verzierten schweren Eichensarg hängen. Sie stellte fest, dass es ihr Erleichterung verschaffen würde, wüsste sie Bertl in diesem Sarg liegend. Dann müsste sie nicht ständig das Gefühl haben, dass bald ihre Nachfolgerin in sein Haus, ausgestattet mit Superküche und Designer-Sofa, einziehen würde. Dass sie in jeder Beziehung ihre Stelle einnehmen würde. Wäre er tot, könnte er zu keiner Frau mehr zärtlich sein, keiner mehr Komplimente machen. Ja, zärtlich und leidenschaftlich konnte Bertl sein. Das musste sie ihm lassen. Wäre er tot, würde sie, genau wie jetzt die feine Dame mit dem schwarzen Hut, schniefend hinter dem Sarg herschreiten, sich trösten und bedauern lassen. Irgendwann würde sie aus dem tiefen Loch der Trauer herauskrabbeln und frei für etwas Neues sein. Sie würde ihm schöne