Das Netz ist politisch – Teil I. Adrienne Fichter
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Die Konsequenz[5]: Wer nur Youtube konsumiert, glaubt nach einigen Wochen, Michelle Obama sei in Wirklichkeit ein Mann, die Erde flach, der Klimawandel inexistent und etliche Schulmassaker in den USA bloss «Inszenierungen».
Algorithmusoptimierung 2012
Das war nicht immer so. Das Geburtsdatum[6] für den heutigen Empfehlungsalgorithmus ist der 10. August 2012. Seit diesem Tag entscheidet im Besonderen die Verweildauer, ob ein Video in die Empfehlungsleiste befördert wird, und nicht mehr die Anzahl Aufrufe.
Damit soll Klick-Müll abgestraft werden, also Videos, die uns mit effekthascherischen Titeln und Vorschaubildern zwar zum Anschauen verleiten, die Erwartungen der Zuschauerin aber nicht erfüllen. Youtube wollte damit eigentlich auf Qualität setzen.
Der Schritt hat sich aus kommerzieller Sicht[7] ausbezahlt: Seit dieser Zäsur verbringt der durchschnittliche Zuschauer heute zehnmal so viele Stunden auf Youtube als zuvor. Der Konzern behauptet, das liege fast ausschliesslich[8] an den Empfehlungen auf der Seitenliste.
Extreme Videos machen süchtig
Aber offensichtlich haben die Youtube-Ingenieure einen zentralen sozialpsychologischen Befund unterschätzt: Menschen, denen immer extremere Meinungen und Behauptungen präsentiert[9] werden, verweilen länger auf den Seiten des Portals und schauen sich noch mehr Videos an. Wer den Youtube-Kosmos also einmal betreten hat, der bleibt. Und gerät dadurch in Parallelwelten wie der frühere Google-Mitarbeiter Damore.
Seit der Algorithmusänderung haben scharfe Kommentatoren und Laien ein leichtes Spiel, weil – wie übrigens auch auf Facebook – eine künstliche Intelligenz bei ihrer Selektion nach «Relevanz» nicht zwischen Verschwörungstheorie und faktenbasiertem Qualitätsjournalismus unterscheidet.
Gleichbehandlung aller Kanäle
Heute tummeln sich auf Youtube, der wichtigsten Informationsquelle für US-Teenager[10], die verschiedensten Akteure: Schönheitsbloggerinnen, Game-Spieler, Veranstalter von Wissenschaftsshows und auch etablierte Medien. Das Auswahlverfahren für die Empfehlungen ist höchst demokratisch. Jeder Kanal – unabhängig, ob er Schönheitstipps oder Dokumentarfilme zeigt – ist gleich viel wert, alle stehen im Wettbewerb zueinander.
Doch diese Gleichbehandlung hat zur Folge, dass man sich schon nach einigen Wochen in einer Parallelwelt jenseits des Faktischen wiederfindet.
Wenn man beispielsweise nach politischen Themen sucht, bekommt man von der Suchmaschine keinen ausgewogenen Medienspiegel vorgeschlagen, sondern die neuesten Videos von Alt-Right-Kommentatoren wie dem berühmten mittlerweile gesperrten Infowars-Kanal von Alex Jones. Oder Inhalte von Next News Network, einer auf den ersten Blick seriös aussehenden rechtspopulistischen Gerüchteschleuder.
Beide machen zuverlässig Stimmung für US-Präsident Donald Trump und diskreditieren liberale Entscheidungsträger wie zum Beispiel jüngst den kanadischen Premierminister Justin Trudeau.
Wenn Sie auf Youtube im Suchfenster «Justin Trudeau» eingeben[11], sehen Sie mit grosser Wahrscheinlichkeit als Erstes ein Video des rechten Verschwörungstheoretikers Paul Joseph Watson mit dem Titel «Justin Trudeau Is a Complete Idiot».
Watson kommentiert eine Szene, in der Trudeau eine junge Frau ermahnt, von «peoplekind» und nicht von «mankind» zu sprechen, mit einer Geste, als ob er sich eine Pistole in den Mund halten würde. Dann rechnet er ab mit Trudeaus Political Correctness und lässt sich aus über die Symbolik seiner bunten Socken.
«Ausreisser»-Phänomen
Was Trudeau genau zum Idioten qualifiziert, bleibt bis zum Ende unklar. Die Spekulation allein hat gereicht, dass man in die Clickbait-Falle getappt ist. Verweildauer: 6 Minuten, 34 Sekunden. Die Zuschauerin beförderte mit ihrer Neugier, dass das Video[12] in der Empfehlungsleiste in den obersten Plätzen rangiert.
Das Justin-Trudeau-Phänomen zeigt sich bei vielen anderen liberalen und linken Politikern. Nur wenige Entscheidungsträger haben auf Youtube eine loyale Community[13], wie das bei Musikstars der Fall ist. Ihnen fehlen die «Fan-Videos», die gerade negative, rufschädigende Beiträge der Alt-Right-Bewegung ausbalancieren.
«Gerade in Fällen von geringer Nachfrage kann eine aktive Gruppe die Ergebnisse überproportional beeinflussen. Youtube nimmt somit einen Zusammenhang an, der objektiv gar nicht existiert», sagt der Youtube-Experte und Medienwissenschaftler Bertram Gugel.
Anti-Hillary-Videomaterial dominierte
Die extreme Rechte hatte auch 2016 die Nase vorn. Youtube ist im Kontext der US-Wahlen die am meisten unterschätzte Plattform[14], sagt Internet-Soziologin Zeynep Tufekci[15]. Nach Angaben von Google wurden in den Swing States – also in den Staaten, die am Ende den Ausschlag für die Wahl von Trump gaben – stundenweise Trump-Videos verschlungen.[16] Egal, nach welchem Kandidaten man auf Youtube suchte, der Trend ging fast immer in dieselbe Richtung: gegen Hillary Clinton. Mit absurden und erfundenen Geschichten.
Der ehemalige Youtube-Ingenieur Guillaume Chaslot[17] kann das belegen. Er verliess das Unternehmen 2013. Angeblich, weil er die Konsequenzen der Algorithmusänderung von 2012 nicht länger verantworten konnte.
Chaslot wies mit seiner Anwendung «Algo Transparency»[18] nach, dass siebzig Prozent aller Videos im US-Präsidentschaftswahlkampf Clinton-feindlich[19] gewesen seien. Am 7. November 2016 figurierten Videos wie «Alert Shocking! Anonymous to Reveal Bill Clinton Pedo Video Hillary for Prison!» (über eine Million Aufrufe) weit oben in fast allen wahlrelevanten Suchanfragen.
Das «Radikalisierungs-Netflix»
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