Die verlorene Insel. Nataliya Gumenyuk

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Die verlorene Insel - Nataliya Gumenyuk

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dass wir es eilig haben, versuchen sie uns, wenn schon nicht zum Essen, so doch wenigstens auf einen Kaffee einzuladen.

      „Natalija, jeden Tag sind wir zu den Kundgebungen gegangen, aber wir waren zu wenige“, so die Jüngere.

      „Nein, dass wir zu wenige waren ist nicht der Grund für das alles; das wurde schon lange vorher entschieden“, widerspricht die Ältere.

      „Hier auf der Krim hat man den Maidan nicht verstanden. Erst hinterher begann man sich dafür zu interessieren. Es gab aber auch Leute mit prorussischen Ansichten, die begriffen haben, dass der Maidan nicht gekauft war, dass die Menschen schlicht und ergreifend für ihre Rechte, ihre Ehre, ihre Würde und für die Freiheit auf die Straße gegangen sind. Erst

      „Das reicht jetzt!“, unterbricht sie die ältere Schwester. Sie hat Angst, dass die Jüngere sich um Kopf und Kragen redet.

      „Herrgott noch eins! Das wissen doch alle!“

      „Walya, willst du Nummer 15 auf der Vermisstenliste werden?“

      Eine heißdiskutierte Frage ist das Verhalten Kyjiws nach der sogenannten Abstimmung. Die Jüngere befindet: „Ich für meinen Teil liebe die Ukraine so sehr, dass ich bereit wäre, Opfer zu bringen. Einen Ofen bauen, mit Brennholz heizen. Aber ich finde nicht, dass die Ukraine die Stromversorgung unterbrechen sollte. Es zahlt sich aus, die Menschen zu unterstützen, die 23 Jahre lang ihre Staatsbürger gewesen sind. Es gibt hier ja auch welche, die die ukrainische Sprache unterstützen, und das sind nicht nur ethnische Ukrainer, sondern auch russischsprachige und sogar ethnische Russen. Es ist alles so kompliziert, ich kann mir nicht vorstellen, wie man sich mit dieser nicht legitimierten Regierung an den Verhandlungstisch setzen könnte. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.“

      „Und worauf hofft ihr?“

      „Wir setzen auf uns selbst. Und darauf, dass Aksjonow und Konsorten uns nicht hinter Gittern bringen, weil wir andere Ansichten haben…“

      „Wir suchen uns Trost. Wir spazieren in unseren wunderschönen Garten. Kommt in einem Monat nochmal vorbei, dann seht ihr, wie hier alles blüht…“ – für einen Moment wechselt die Frau das Thema, dann fährt sie fort: „Aber wir wissen nicht, welche Rechte wir dann noch haben werden. Wie können wir die Bindung zur Ukraine aufrechterhalten? Sie rufen zur Evakuierung der Zivilbevölkerung auf. Aber weshalb sollten wir unsere Häuser verlassen? Erstens haben wir Angst vor Plünderungen. Zweitens ist uns nicht begreiflich, warum wir die Orte, an denen wir ein halbes Jahrhundert lang gelebt haben, überhaupt verlassen sollen.“

      Die ältere Schwester ergänzt: „Ich habe 1963 mit dem Bau dieses Hauses begonnen und lebe seit einem halben Jahrhundert hier. Ich habe das alles mit meinen eigenen Händen geschaffen, gespachtelt, gestrichen – alles in der Hoffnung auf einen ruhigen Lebensabend.“

      In den kommenden zweieinhalb Monaten werden die Schwestern zweimal nach Kyjiw reisen – davon einmal, um sich für die vorgezogenen Präsidentschaftswahlen zu registrieren. Die Fahrt nach Kyjiw ist kraftraubend und kostet Zeit und Geld. Für die betagten Frauen von der Krim ist sie eine Bürgerpflicht und wenigstens eine Sache, das sie tun können. Sie freuen sich, in Kyjiw zu sein. Die festliche Stimmung in den Wahllokalen und die blau-gelben Flaggen, die auf der Krim zum Symbol des Widerstands geworden sind. Wir unterhalten uns vor dem Eingang zu einem Wahllokal im Zentrum der Stadt, rund einhundert Meter vom Maidan entfernt. Eine der Wahlbeobachterinnen, eine Maidan-Aktivistin, will wissen, woher die Frauen stammen: „Ihr seid von der Krim? Warum habt ihr sie nicht verteidigt?“, fragt sie in vorwurfsvollem Ton: „Hier in Kyjiw haben Frauen in Pelzmänteln Pflastersteine herausgebrochen und Molotow-Cocktails vorbereitet.“

      „Was konnten wir schon groß tun? Auch wir sind auf die Straße gegangen. Nur standen uns bewaffnete Leute gegenüber“, rechtfertigt sich die jüngere Schwester. Die ältere schweigt.

      Für gewöhnlich mische ich mich nicht in Gespräche ein, sondern beschränke mich auf die Rolle der Beobachterin. Doch jetzt kann ich mich nicht zurückhalten und nehme die Wahlbeobachterin zur Seite: „Ist Ihnen überhaupt bewusst, was Sie da sagen? Diese beiden Damen haben am Euromaidan auf der Krim teilgenommen. Sie sind eigens nach Kyjiw gekommen, nur um ihre Stimme abzugeben. Sie haben schon genug Sorgen. Können Sie sich vorstellen, mit welchen Gedanken sie jetzt auf die Krim zurückkehren werden?“ Daraufhin geht die Frau zu den Schwestern zurück und entschuldigt sich.

      Der Zug Simferopol – Kyjiw passiert Dschankoj, den letzten Halt auf der Halbinsel. Das bedeutet, dass es keine Kontrollen mehr durch Kosaken oder Krimnasch (Die Krim ist unser)-Aktivisten geben wird. Für einige Minuten schweigen die Passagiere einfach. Sie hängen ihren Gedanken nach oder schauen auf die Bildschirme ihrer Smartphones. Dann blicken sie auf und beginnen zu reden. Schnell wird klar, dass niemand in unserem Abteil die Annexion unterstützt.

      „Diese Verräter! Sie haben uns einfach fallengelassen, um einem anderen Staat zu dienen“, empört sich eine junge Frau, die, wie sich herausstellt, für die Staatsanwaltschaft in Simferopol tätig war: „Man sollte sie alle vor Gericht bringen. Sie sind Journalistin? Wissen Sie vielleicht, ob man uns dort Arbeit verschafft? Ich habe einfach meine Sachen gepackt und mich auf den Weg nach Kyjiw gemacht. Ich werde bei der Generalstaatsanwaltschaft anrufen und fragen, wo ich jetzt arbeiten soll. Ich hoffe, es findet sich eine Möglichkeit. Wo soll ich sonst hin? Ich komme zwar von der Krim, aber mit Verrätern und Eidbrechern zusammenarbeiten – niemals!“

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