Die verlorene Insel. Nataliya Gumenyuk

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Die verlorene Insel - Nataliya Gumenyuk

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„Wir wollen ein ganz normales Leben. Aber die pressen uns hier aus. Das Geld von den Touristen fließt nach Kyjiw, und wir sehen

      „Glauben Sie etwa, dass es in Russland keine Korruption gibt?“

      „Keine Ahnung, aber zumindest setzt Putin jede Woche einen dieser korrupten, betrügerischen Gouverneure aus allen möglichen Oblasten vor die Tür. Unter Julija Timoschenko hatten wir zwei Stunden täglich Strom, es gab kein Benzin, Busse fuhren nicht. Und die soll jetzt eine Heldin sein? Habt ihr die dreistöckigen Hütten gesehen, die die sich gebaut haben? Wir sind hier weit ab vom Schuss, wir haben im Dreck gelebt und wir werden weiter im Dreck leben.“

      In Kyjiw herrscht der Eindruck vor, dass die Krim hinter Janukowytsch stand – die Halbinsel als Hochburg jener „Partei der Regionen“, die mit dem NATO-Beitritt kokettiert und politisches Kapital aus der Sprachenfrage geschlagen hat. Wir werden den Eindruck nicht los, dass die Menschen auf der Krim nicht das gesamte Ausmaß der Korruption des Ex-Präsidenten, der durch den Maidan aus dem Amt gejagt wurde, erfasst haben. Es scheint, als kämen wir einige Jahre zu spät. Die russische Botschaft auf der Krim lautet: „Alle ukrainischen Politiker sind wie Janukowytsch. Einzig Putin ist anders.“ Ein lokaler Aktivist pflichtet bei: „Weißt du, die Leute glauben, dass der korrupte Donezker Clan sich die Krim unter den Nagel gerissen hat und dass Russland so etwas nicht dulden wird.“

      Ich möchte von Onkel Tolja wissen, ob er darauf setzt, dass Moskau ganz ohne Bedingungen Geld aushändigen werde. Doch dieser gerät ins Schwärmen über die Zeiten in der Sowjetunion, als es im Dorf noch drei Traktoristen-Brigaden gab. Onkel Tolja glaubt, dass Krieg vermieden werden kann und dass alle in Frieden leben werden: „Wir – die Ukraine und die Krim – sind eine Familie. Aber es ist besser, wenn jeder seinen eigenen Weg geht. Schlimmer kann´s nicht werden.“

      An diesem Tag haben sich die Frauen zum gemeinsamen Gebet versammelt: „Allah schenkte uns eine Heimat, auf dass wir mit anderen Völkern in Freundschaft und Harmonie leben. Wir sind froh, dass man in der Westukraine hinter uns steht. Wir unterstützen den Maidan. Wenn wir Worte der Fürsorge und der Solidarität vernehmen, kommen wir zur Ruhe. Wir haben Allah um seinen Segen gebeten, weiterhin in unserer Heimat und in Einigkeit mit der Ukraine leben zu können. Wir haben ihn auch darum gebeten, dass er Putin ein wenig Güte und Weisheit schenken möge, auf dass er seine Truppen und Soldaten, die hierhergekommen sind, abziehe, sie lebendig und unversehrt zu ihren Familien, Müttern und Frauen zurückkehren und hier wieder Friede einkehre wie vor ihrer Ankunft.“

      Der Betreiber des Café Musafir, Lenur Osmanow, findet deutlichere Worte. Er sähe es gerne, wenn die Machthaber in Kyjiw die Strom- und Wasserversorgung unterbrechen würden, um den Krimbewohnern ihre Abhängigkeit vom Festland vor Augen zu führen: „Mir ist bewusst, dass man in Kyjiw vor einem Dilemma steht: wie setzt man solche Druckmittel ein, ohne den Menschen zu schaden? Doch wir Krimtataren haben die Deportation überlebt. Wir kennen weitaus schlimmere Verhältnisse – Strom und Wasser sind ein Witz dagegen. Jede Familie hat geliebte Menschen verloren. Daher kann man wohl behaupten, dass wir einiges aushalten. Die Ukraine sollte sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, dass sie ihre eigenen Leute in diese Lage gebracht hat. Die Krim ist ein Teil der ukrainischen Wirtschaft und Gesellschaft. Wir überstehen das.“

      Switlana stammt aus Sewastopol und ist Lehrerin für ukrainische Sprache und Literatur. Ihr Tonfall bei unserem Treffen ist eindringlich: „Natalija, sag mir, wie ist das möglich? Im Radio wird behauptet, dass achtzig Prozent der Krimtataren beim Referendum abgestimmt hätten. Ich glaube das nicht. Halb so viele vielleicht, aber doch nicht achtzig?“

      Mir kommt die Frage nach der Funktionsweise von Propaganda in den Sinn. Ein Mensch mag vielleicht glauben, dass diese oder jene Zahl etwas frisiert oder gefälscht ist, aber dass man dermaßen dreist lügen kann, das er kann sich nicht vorstellen.

      Am Stadtrand von Sewastopol, wo Switlana lebt, gibt es so gut wie keine Cafés, und mir wird klar, dass Vertreter ihrer Generation (zumal mit ihrem Gehalt) es nicht gewohnt sind, sich auf einen Kaffee zu verabreden. Sie bittet um ein Treffen im Zentrum, unweit des Markts. Es erscheint mir nicht sehr vernünftig, mit einem Videointerview unter freiem Himmel Aufmerksamkeit zu erregen. In einer Pizzeria im Einkaufszentrum finden wir noch eine freie Ecke. Switlana hat ihre Tochter mitgebracht, die noch zur Schule geht. Das Mädchen ist erschöpft. Wir haben Mühe, uns auf das Gespräch einzustellen, zumal ich es aufzeichne. Die Unterhaltung kommt gerade in Gang, da setzt sich eine Gruppe stämmiger Bartträger an einen großen reservierten Tisch neben uns. Sie sprechen irgendeine slawische Sprache. Ich kann nicht verstehen, was genau sie hier auf der Krim treiben. Stehen sie an den Straßensperren Wache? Hat sie die Sensationslust hierhergetrieben? Oder sind sie als Erfüllungsgehilfen der Annexion hier? Ich nehme meinen Mut zusammen und frage sie nach ihrer Herkunft. Sie schlagen ein Selfie vor und antworten, dass sie aus Novi Sad kämen. Gelegentlich tauchen in den Newsfeeds zur Krim auch Berichte über Tschetniks auf – serbische Nationalisten, die Russland unterstützen. Höchste Zeit, unser Gespräch an einem anderen Ort fortzusetzen.

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