Die verlorene Insel. Nataliya Gumenyuk

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Die verlorene Insel - Nataliya Gumenyuk

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Gerhard Schröder oder Uli Hoeneß zum Beispiel erfahren, wie es ist, heute auf der Krim Ukrainisch zu sprechen. Oder verpflichtet zu sein, in der eigenen Heimat plötzlich Aufenthaltsgenehmigungen von fünf Jahren beantragen zu müssen. Oder in der Medschlis, einer Selbstverwaltung der Krimtataren, aktiv zu sein. Oder seinen Glauben zu praktizieren. Oder die russische Staatsangehörigkeit nicht annehmen zu wollen. Oder nicht damit einverstanden zu sein, wie Lehrbücher umgeschrieben werden und dass ein Denkmal auf der Halbinsel die „grünen Männchen“ ehrt, die sie militärisch eingenommen haben – denn dass die Krim nicht als Folge einer Volksbewegung sich von der Ukraine abspaltete, sondern in einer vom Kreml befehligten militärischen Operation einverleibt wurde, das bekennt mittlerweile mit einigem Stolz sogar der russische Präsident Wladimir Putin. Gumenyuk hält die schleichenden Veränderungen, die zunehmenden Repressionen, die wachsende Angst fest – der Eindruck, dass auf der Krim das Leben wie eingefroren ist, er täuscht.

      Man spürt, dass Nataliya Gumenyuk vom Fernsehen kommt. Sie denkt in Bildern und gibt in ihrem Buch O-Tönen, Zitaten, viel Platz, und das ist ein Segen. Ihre Sprache ist schnörkellos, aber nie frei von Empathie. Je mehr sich Gumenyuk als Erzählerin zurücknimmt, desto mehr Raum lässt sie für jene, die sonst keinen Platz haben, nicht vorkommen. Man hört sie tatsächlich denken, reden, hadern.

      Da ist die Krimtatarin Nadschije Mamutowa, deren Mann inhaftiert ist und die sich um Kinder von politischen Gefangenen kümmert.

      Da ist Mykola Semena, ukrainischer Journalist, dem jahrelange Haft wegen eines Kommentars droht.

      Da ist der Anwalt Emil Kurbedinow, der viele der Krimtataren vertritt und sagt: „Wenn du ein Muslim bist, können sie dir die Terrorismus-Paragrafen anhängen; hast du eine säkulare Weltanschauung, fällst du unter die Extremismus-Paragrafen.“

      Da ist die Krimtatarin Elmira, die während der Deportationen zur Welt kam und deren Mann nun angeklagt wurde. Sie sagt etwas von einer verstörenden Einfachheit: „Auf unserem Land sind wir unsere eigenen Herren, und diese Fragen müssen mit uns erörtert werden. Uns müsst ihr fragen, was wir wollen.“

      Warum fällt uns das allen so schwer?

      Es muss für Gumenyuk nicht leicht gewesen sein, dieses Buch zu schreiben; auch jenen zuzuhören, die Positionen vertreten, die in Kyjiw verdammt werden. In einer Zeit, in der in der Ukraine darüber diskutiert wird, ob man die Kämpfer in der Ostukraine anders nenne dürfe als „Terroristen“, verzichtet sie auf wertende Zuschreibungen. Sie hört einfach zu – ein nahezu provozierender Akt in einer Zeit der politischen Dogmen. Doch wie könnte man anders verstehen, wie jene Menschen, die gegen den Maidan waren und ihre Sehnsucht nach der Sowjetunion pflegen, als ukrainische Staatsbürger verloren gehen konnten? Denn auch wenn das russische Militär die Krim fast über Nacht einnahm – die politische Entfremdung der Krim-Bewohner vom ukrainischen Festland hatte Jahrzehnte zuvor begonnen.

      Am Ende ihres Buches schreibt Nataliya Gumenyuk: „Überhaupt begleitet mich auf der Krim ständig ein Gefühl der Reue, und ich fühle mich oft schuldig.“ Weil sie Gesprächspartner nicht wieder trifft, weil Kontakte verloren gehen. Darf man das, mitfühlen? Interviewpartner umarmen, jubeln, wenn der Aktivist Oleh Senzow nach fünf Jahren russischer Gefangenschaft freikommt? Ich finde: Wenn man seine Arbeit so macht wie Gumenyuk, dann darf man das. Es wäre zynisch, von einer Ukrainerin wie Gumenyuk eine Distanz zu verlangen, als wäre sie eine Fremde und nicht Staatsbürgerin dieses Landes, über das sie berichtet. Und es ist fast beruhigend zu lesen, dass Gumenyuk seit 2014 nicht nur wieder und wieder auf die Krim gereist ist und mit allen spricht, sondern dass sie auch weiterhin nach Moskau gefahren ist, sogar mit Kollegen des russischen Staatsfernsehens spricht. Dass sie dieses Vorwort für die deutsche Ausgabe einer Korrespondentin anvertraut, die seit Jahren in Moskau wohnt.

      Das große Verdienst dieses Buches ist es, ohne „explizite Schlussfolgerungen“ auszukommen, wie Gumenyuk schreibt – mit einer Ausnahme: „Relatives Glück und Frieden der Mehrheit können nicht erlangt werden, wenn der Preis dafür das Leid anderer ist“. Sein größtes Verdienst ist es aber, dass es in der Welt ist. Dass es existiert. Dass es die Bewohner dieser Halbinsel sprechen lässt inmitten des Lärms der Geopolitik.

      Die Krim mag in diesen Jahren verloren sein, aber ihre Menschen sind nicht vergessen.

      Alice Bota,

      Korrespondentin der ZEIT für Osteuropa

      Moskau, Oktober 2020

      Nach der Annexion verlor die Krim ihren Status als Halbinsel. Die Abtrennung von der Ukraine, eine neue Gerichtsbarkeit, neue Grenzziehungen und darüber hinaus eine neue politische Mythologie haben das Gefüge der Halbinsel radikal verändert. Ihr Verharren zwischen der Macht des Faktischen und der Ohnmacht des Rechtlichen hat die Krim in eine Insel der Ambivalenz und der Unsicherheit verwandelt – eine Unsicherheit, die in sämtliche Lebensbereiche einsickert und keine andere Wahl lässt, als die eigenen politischen Hoffnungen auf ein Mindestmaß zu beschränken.

      Es ist allgemein bekannt, dass Inseln häufig Gegenstand kolonialer Gelüste oder Fixpunkte von Eroberungsfantasien sind. 2014 blinkte die Krim infolge der revolutionären Ereignisse in der Ukraine als roter Punkt auf der geistigen Landkarte Russlands auf – seitdem ist sie nicht länger ein von Sowjetnostalgie überformter Kurort, sondern vollkommen moderne, historische Zweckmäßigkeit; eine Phantasmagorie, die angeblich seit jeher das russische Volk genährt hat. Aus Gründen der Effekthascherei und der Effektivität erfordert die physische Eroberung des Territoriums eine Kolonisierung des Imaginären, einen Glauben an die Alternativlosigkeit der „Rückkehr“ der Krim nach Russland. In dieser Hinsicht tobt seit sechs Jahren – trotz zahlreicher verlorener Debatten – unvermindert ein ideologischer Kampf um die Krim, dauert die Auseinandersetzung um die Deutungshoheit der Besetzung der Krim auf russischen und ukrainischen Mattscheiben und in der Presse weiter an. Die Erklärungen stehen in einem unversöhnlichen Gegensatz zueinander und wetteifern innerhalb der Gesellschaften der Ukraine, Russlands und der Krim eifrig um das Recht auf Wahrhaftigkeit.

      Wir erfahren dort von der Rückkehr, dem Wiederaufbau, der historischen Gerechtigkeit, dem wachsenden Wohlstand der Staatsbeamten und von der Erholung der Touristenströme; man erzählt uns von den Stätten patriotischer Heldentaten – damals im Zweiten Weltkrieg, heute im Widerstand gegen die „nationalistische Offensive“ vom ukrainischen Festland. Die Krim ist zu einer Art politischem Laboratorium geworden, wo die Grenzen des Völkerrechts ausgelotet und die Militarisierung des Bewusstseins erprobt werden. Ein solches Bewusstsein ermöglicht es, die Zugeständnisse an die Bürger gering zu halten und gleichzeitig einen hohen Grad an Loyalität sicherzustellen.

      Im kollektiven Gedächtnis der Ukraine stellt die Krim eine Wunde dar, die für den Kriegsbeginn und den Verlust des Zuhauses steht. In unserem medialen Kontext wird die Krim häufig auf einen Punkt auf der Landkarte reduziert, der bisweilen neurotisch aufblitzt – ebenso neurotisch, wie die Ukrainer sich und anderen die eine Frage stellen: wem gehört die Krim? Gegenwärtig ist das Sprechen darüber, dass die Krim ein Teil der Ukraine ist, das vielleicht einzige wirksame Schmerzmittel gegen die Wunde, die der Verlust der Krim bedeutet. Gleichzeitig hat der Raub der Halbinsel historische Traumata – insbesondere das Trauma der Deportation der Krimtataren – wieder zutage gefördert. Dieses Trauma fällt mit der gegenwärtigen ethnischen Verfolgung der Krimbevölkerung durch die russischen Sicherheitsbehörden zusammen und bringt unaussprechliches Leid hervor, welches die ukrainische Seite zu überwinden nicht in der Lage ist. Infolgedessen wird die Krim immer mehr zu einem Sinnbild des Schweigens und verschwindet allmählich aus dem politischen Bewusstsein.

      Paradoxerweise versucht ausgerechnet Russland, den verlorenen Status der Halbinsel wiederherzustellen. Dabei stellt der utopische Bau der Brücke von Kertsch (der „Krim-Brücke“) nicht nur einen physischen, sondern auch einen mentalen

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