Kurz und schmerzlos. Peter Gerdes
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Anderseits waren die beiden Typen wirklich auffällig. Geradezu verdächtig.
Jetzt schwenkten sie nach rechts, die Treppe hinauf. Na prima, natürlich ging es hier zum Gleis sieben! Also würde er diese Gestalten auch bis Leer nicht loswerden. Vermutlich sogar bis Norddeich. Wenn er sich jetzt nicht endlich zur Ordnung rief.
Er verlangsamte seinen Schritt, entschlossen, die beiden Männer ganz gezielt aus den Augen zu verlieren.
Etwas stupste ihn weich in die Seite. Erschrocken drehte er sich um: die Frau mit dem Kind und der Strandtasche. Das ballondicke, sperrige Ding hatte ihren Überholversuch vereitelt. Die Frau lächelte entschuldigend. Diesmal bekam er eine angemessene Erwiderung hin, was seine Stimmung sofort wieder hob. Und ein Blick nach vorne stellte seine Urlaubslaune endgültig wieder her.
Das ungleiche Paar nämlich war in der Menge verschwunden.
Der Bahnsteig war gepackt voll, und als der Zug einrollte, setzte ein Unheil verheißendes Gedränge und Geschiebe ein. Wohl dem, der eine Platzkarte hat, dachte Stahnke. Er hatte keine. Dafür hatte er Glück, denn als der Zug zum Stehen kam, befand sich eine der Waggontüren direkt vor seiner Nase. Ungeduldig verfolgte er den Tröpfelstrom der Aussteigenden, die augenscheinlich froh waren, endlich aus dem Gang herauszukommen, in dem sie vermutlich unnötig lange gestanden hatten. Dann reckte er seine breiten Schultern, sperrte den Einstieg einen Augenblick lang frei und gab der Frau mit dem Kind einen Wink. Diesmal schenkte sie ihm ein warmes Lächeln voller Dankbarkeit, als sie in seinem Schutz samt ihrer schlummernden Last freihändig die Stufen erklomm.
Drinnen begann der Kampf um die freien Plätze. Der erste Großraumwagen, durch den sich schob, war komplett ausgebucht. Erst im nächsten hatte er Glück: drei freie Plätze an einem Tisch. Zwar saß er nicht gerne so beengt, da aber bereits die ersten Platzsuchenden aus der Gegenrichtung eintrafen, überlegte er nicht lange und klemmte seine knapp zwei Zentner hinter die Tischkante.
Die Frau mit dem Kind nahm ihm gegenüber Platz.
Er musterte sie verstohlen, während sie das Kind vorsichtig auf den Fensterplatz gleiten ließ und in ein Reiseplaid wickelte, das sie aus ihrer Ballontasche gezerrt hatte. Die Frau war klein, blond, schlank und zierlich. Ausgesprochen hübsch fand er sie mit ihren verspielten Ohrringen, die an kleine Mobiles erinnerten, und dem kaum geschminkten Gesicht. Auch das Kind war niedlich, pausbackig und stupsnasig; aus seiner Kapuze quollen braune Locken hervor. Durch das hektische Gewirr ringsum ließ es sich in seinem Schlaf kein bisschen stören. Beneidenswert, fand Stahnke.
Er räusperte sich. »Fahren Sie auch nach Norddeich?« In einem Zug wohl die denkbar unverfänglichste Gesprächseröffnung.
Sie schrak zusammen, als hätte er sie angebrüllt, und zeigte wieder die ängstliche, misstrauische Miene von vorhin. Dann aber entspannte sie sich ein wenig und antwortete: »Nein. Wir steigen schon in Emden aus.«
Er nickte, als habe er keine andere Auskunft erwartet, und bemühte sich um einen möglichst freundlichen und begütigenden Gesichtsausdruck. Offenbar reiste die Frau nicht sehr oft, vielleicht auch einfach nicht oft allein, und war durch die Verantwortung für sich und vor allem ihr Kind verunsichert. Na ja, dachte er, jetzt bin ich ja hier. Vielleicht kann ich sie ein wenig unterstützen.
»Wie alt ist denn der Kleine?«, fragte er. Je normaler, desto weniger beunruhigend die Frage.
»Drei Jahre und vier Monate.« Sie hatte ihre Fassung zurückgewonnen und schien einer harmlosen Unterhaltung nicht gänzlich abgeneigt. »Er hat Probleme mit den Bronchien, wissen Sie, und kann deshalb nachts oft nicht schlafen. Daher bin ich froh über jede Stunde, die er tagsüber schläft.«
Darüber dachten die meisten Eltern anders, erinnerte sich Stahnke; Kinder, die nachts wach lagen und weinten, hinderte man am Tage zumeist am Schlafen, da sie sonst in der folgenden Nacht erst recht nicht in den Schlaf zu bekommen waren. Aber für chronisch kranke Kinder galten gewiss andere Regeln. Er nickte verständnisvoll.
Die Frau hatte eine Zeitung aus ihrer Tasche gekramt und aufgeschlagen. Allzu groß schien ihre Lust auf eine Unterhaltung also doch nicht zu sein. Na denn, wie auch immer. In Norddeich würde es mehr als genügend Gelegenheit zu interessanten Gesprächen geben.
Aber doch merkwürdig. Die Frau wollte gar nicht ans Meer; warum dann diese Strandtasche? Besaß sie denn kein anderes, geeigneteres Behältnis? Na, wie auch immer. Wenigstens besser als eine Plastiktüte.
Der Zug ruckte an und begann zu rollen. Am anderen Ende des Großraumwaggons richteten sich gerade die letzten Passagiere, die noch reguläre Sitzplätze hatten ergattern können, häuslich ein, während zwei Nachzügler die Notsitze zwischen den Gangfenstern herunterklappten. Stahnke warf einen mitfühlenden Blick zu ihnen hinüber – und traute seinen Augen nicht: Da war es wieder, das ungleich Paar! Aktenkoffer, Laptop und Plastiktüte wurden unter die Sitze geschoben, Lackschuhe und Camel-Boots nebeneinander gestellt, und schon steckten die Köpfe wieder zusammen. Zusammengezogene Augenbrauen ließen eine ernste Thematik erahnen. Verhandlungen vielleicht? Ging es womöglich um ein Geschäft? Aber was für Geschäfte konnten zwei so ungleiche Typen hier im fahrenden Zug miteinander tätigen?
Eine Frage, auf die es viele mögliche Antworten gab. Darunter so ziemlich alle illegalen Möglichkeiten, die sich denken ließen.
Offenbar hatte er die beiden eine Kleinigkeit zu lange angestarrt, denn plötzlich blickte er genau in die Augen des Gutgekleideten. Dunkle Augen, ein sehr intensiver Blick. Geradezu unheimlich. Auch der schludrige Dicke begann sich ihm zuzuwenden. Schnell senkte Stahnke die Lider, drehte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf das Kind.
Als hätte er das gespürt, begann sich der kleine Junge zu regen. Er räkelte sich, reckte pummelige Fäustchen aus den Ärmeln seiner Jacke und produzierte dazu speichelgetränkte Brabbellaute, ohne die Augen zu öffnen. Ein putziges Bild, anrührend und abschreckend zugleich; Stahnke fühlte sich kleinen Kindern gegenüber stets verunsichert und vollkommen hilflos, denn er verstand sie noch weniger als ihre Mütter. Die Kinder wiederum, das wusste er aus unangenehmer Erfahrung, quittierten solches Unverständnis zumeist mit lautstarker Ablehnung. Also beschränkte er sich aufs distanzierte Süßfinden.
Die Mutter des Kleinen reagierte dafür umso schneller. Sie legte ihre Zeitung beiseite und zauberte aus den Tiefen ihrer Ballontasche ein Teefläschchen hervor, entfernte die Schutzkappe und schob dem Kind den Gummisauger zwischen die speichelfeuchten Lippen. Der Junge griff mit beiden Händen nach der Flasche und begann gierig schmatzend zu trinken. Nach wenigen Schlucken fiel er mit einem schnaufenden Seufzer in seinen Schlummer zurück.
Stahnke riskierte einen erneuten, diesmal sorgsam getarnten Seitenblick zum ungleichen Paar. Immer noch das gleiche Bild: intensive Verhandlungen bei vorgeneigten Oberkörpern, zusammengesteckten Köpfen und sparsamen Gesten. Noch war man sich anscheinend nicht einig.
Ein silbriges Glänzen auf dem Gangboden fing Stahnkes Blick ein. Was war das? Gerade eben hatte dort noch nichts gelegen, da war er sich sicher, da konnte er sich auf sein in jahrzehntelanger beruflicher Routine geschultes Auge verlassen. Das Silbrige musste eben erst dorthin gelangt sein. Vermutlich war es einem der beiden verdächtigen Männer aus der Tasche gefallen. Beziehungsweise aus dem Koffer oder der Plastiktüte.