Altes Wissen - Neuer Tod. Petra Mehnert
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„Schau mal Hugo ... es ist doch ganz einfach“, fing Linda nochmals von vorne an und strubbelte ihrem kleinen Bruder durch seine roten Locken. „Die Häschen deines Bruders sind krank und wir wollen ihnen helfen, gesund zu werden. Genau dafür haben wir dieses tolle Buch hier - da steht drin, was wir tun müssen!“
„Aber das letzte mal, als wir ihnen das komische Zeug zu fressen gegeben haben, ist es doch nicht besser geworden!“, jammerte der untersetzte Mann, der mit seinen fünfunddreißig Jahren immer noch wie ein kleiner Junge wirkte. Linda nahm ihn in ihre Arme und drückte ihn ganz fest.
„Das weiß ich auch, Hugo. Aber manchmal muss man mehrere Versuche machen, bis man das Richtige findet, was den armen Tierchen helfen wird. Wir versuchen es einfach nochmal, was meinst du?“, gurrte sie geradezu, doch ihr Blick war dabei eiskalt. Hugo konnte es nicht sehen, aber er schien zu spüren, wie ernst es ihr mit dieser Sache war. Trotz seines inneren Widerstrebens, drückte er seine Schwester ebenfalls so fest er konnte. Erst dann befreite er sich aus ihrer Umklammerung.
„Also gut. Was soll ich machen?“, fragte er ergeben und wollte so sehr glauben, dass seine Schwester recht hatte und es den armen Hasen bald wieder besser gehen würde. Sie lagen seit Tagen nur noch apathisch in ihrem Stall, fraßen und tranken so gut wie nichts mehr. Den Meerschweinchen schien es ähnlich zu gehen, vielleicht mussten sie sich um die auch noch kümmern? Das fragte er dann auch seine Schwester, doch die winkte ab.
„Um die kümmert sich bereits der Luca - mach dir keine Sorgen, wir drei halten zusammen und kriegen das schon hin!“, sagte sie und war sich ihrer Sache noch nie so sicher wie jetzt. Mit Hilfe des alten Heilerwissens aus dem Buch von Albertus Magnus würde ihr Vorhaben gelingen. Wie gut, dass sie eine neue Ausgabe von zweitausendacht im Internet gefunden hatte, denn das Original mit der alten Schrift war doch recht mühsam zu lesen gewesen.
4
Die Gerichtsmedizin der Universitätsklinik Ulm hatte sich inzwischen gemeldet und die Kommissare Kiss und Clemens waren auf dem Weg dorthin. Sie waren beim „Doktor der Toten“, wie sie den zuständigen Arzt Dr. Hildenbrandt insgeheim nannten, angemeldet. Von Göppingen aus waren sie über die neue B10 Richtung Geislingen gefahren und standen am Ende der zweispurigen Umgehungsstraße wie fast immer im Stau.
„Ob wir den Weiterbau der B10 wohl noch erleben werden? Was bringt diese Umgehung, wenn sie dann doch wieder in diesem blöden Nadelöhr endet?“, schimpfte Joska, der sich fragte, wohin die vielen Leute um elf Uhr am Vormittag wohl unterwegs waren.
„Den Autofahrern bringt es nicht viel, aber den Anwohnern in den Ortschaften schon. Nur die Geschäfte werden es sicher merken, dass weniger potentielle Kundschaft an ihnen vorbeifährt. Man kann halt nicht alles haben“, entgegnete Sascha, woraufhin ihr Gespräch wieder zum Erliegen kam und Joska auf dem Beifahrersitz einschlief. Kurz vor Ulm kam wieder Leben in ihn und er fuhr sich durch die verstrubbelten blonden Haare. „Mir ist immer noch nicht wohl, wenn wir in die Katakomben der Klinik runter gehen“, seufzte Joska, doch sein Kollege fand das eher spannend. Der sechs Jahre ältere Clemens war erst spät in den Polizeidienst getreten, hatte sich aber inzwischen unentbehrlich für seinen jungen Kollegen gemacht. Auch bei diesem Termin war Herr Kiss sehr froh, seinen wachsamen und wissbegierigen Mitarbeiter bei sich zu haben.
Dr. Hildenbrandt erwartete sie schon am Eingang und begrüßte sie in seiner ruhigen und besonnenen Art.
„Dort entlang, die Herren. Die Dame liegt gleich hier drüben“.
Voller Unbehagen bei dem Einen und Vorfreude bei dem Anderen folgten die Kommissare dem Arzt, der bereits das weiße Tuch von der Toten gezogen hatte. Sogleich begann er mit seinem Vortrag:
„Mein Kollege, Dr. Menrad, hatte vollkommen recht, als er die Möglichkeit erwähnte, dass die Frau hier nicht nur allein an ihrer Alkoholsucht gestorben ist. Man kann an Mund und Nase feststellen, dass sie irgendwelche giftigen Substanzen zu sich genommen hat. Daraufhin untersuchten wir auch ihre inneren Organe und auch hier haben wir Giftiges analysieren können. Allerdings ist es ein so merkwürdiger Cocktail aus allen möglichen ... Kräutern - möchte ich mal behaupten - so etwas ist uns hier noch nie untergekommen. Man kann sagen, dass es hauptsächlich Heilkräuter sind, aber in viel zu hohen Dosen und verstärkter Wirkung durch den starken Alkoholkonsum, sodass dies schließlich zum Tod geführt hat. Ob die Dame sich diese Mittelchen selbst verabreicht oder es ihr jemand untergejubelt hat ... nun, es bleibt jetzt Ihnen überlassen, das herauszufinden. Viel Erfolg!“, zwinkerte ihnen der Arzt zu und deckte die Leiche wieder ab.
„Können Sie uns bitte die Mixtur dieses Cocktails zukommen lassen?“, fragte Herr Clemens, der sich bereits darauf freute, das alles genauestens nachrecherchieren zu können.
„Selbstverständlich. Sie bekommen baldmöglichst meinen Bericht. Falls Sie sonst nichts mehr von mir brauchen - ich hab noch viel zu tun, wie Sie ja sehen können“, seufzte er und zeigte auf drei weitere zugedeckte Leichen.
„Nichts wie raus hier!“, zischte Joska seinem Kollegen zu und eilig verließen sie die gerichtsmedizinischen Räume.
„Und jetzt? Fahren wir sofort zu den Angehörigen?“, wollte Sascha wissen und setzte sich wieder aus Rücksicht auf die immer noch geschwollene Nase seines Kollegen hinters Steuer von dessen kleinem Mini Cooper.
„Ja, würde ich sagen. Fühlen wir denen doch gleich mal auf den Zahn!“, kommandierte Joska Kiss mit neuem Elan, denn Zeugenbefragungen und das Einkreisen Verdächtiger war seine Spezialität. Während sie über Geislingen, Salach und Krummwälden Richtung Ottenbacher Tal fuhren, merkte Joska mal wieder, um wie viel kälter es dort war. Während im Filstal kaum Schnee gefallen und sofort wieder weggetaut war, lag das sogenannte Göppinger Allgäu mit weißem Schleier vor ihnen. Der Wald auf dem Hohenstaufen hatte eine zarte pudrige Krone und auch die Dächer der rund um den Berg gelegenen Häuser waren weiß. Lange würde das bisschen Schnee allerdings nicht liegen bleiben, es wurde bereits warmes Frühlingswetter angekündigt.
„Immer wieder schön, nach Hause zu kommen“, stellte Joska fest und es überraschte ihn selbst, wie gerne er inzwischen in dem beschaulichen Örtchen Ottenbach mit seinen knapp zweitausendfünfhundert Einwohnern lebte. Natürlich lag das hauptsächlich an seiner Freundin Nora Angerer und ihrer Familie, aber auch an ihrem schönen Außenhof, auf dem er nun wohnte.
„Die Bockmeyers wohnen auch auf einem der außerhalb der Ortschaft liegenden Höfe, stimmts?“, wollte Sascha wissen und Joska nickte.
„Ja, auf einem der insgesamt an die vierzig, soweit ich richtig informiert bin. Deshalb ja auch der Ausdruck ´Göppinger Allgäu`. Allerdings bin ich gespannt, wie lange diese Höfe noch so erhalten bleiben können. Bei einigen steht ein Generationenwechsel