Great again?. Julia Kastein
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Julia und ich haben Nancy Flinn im Jahre 2000 kennengelernt. Nancy war frisch verwitwet. Ihr zweiter Mann Rick, den sie heute noch »die Liebe meines Lebens« nennt, war im Alter von 56 Jahren gestorben. Nancy lebte allein mit Winston, einem kalbgroßen Labradoodle, in dem kleinen, schmalen Townhouse auf Georgtowns Poplar Street, das sie einst mit Rick teilte und jetzt mit Dick. »Ich besitze elf Toiletten«, erzählte sie damals. Ansonsten sei sie »hausarm«. Beides Anspielungen darauf, dass sie in Washington, auf Cape Cod und in Vermont Immobilien besaß. Allerdings mit hoher Hypothekenbelastung. Unsere erste Begegnung fand im Hundepark statt, im Rose Park, in dem allabendlich die Hundebesitzer von Georgetown zusammenkamen, die Hunde spielen ließen, ausgelesene Bücher austauschten und einem Sundowner niemals abgeneigt waren.
Am 13. März 2002 lernte Nancy Dick Weiss kennen. Das genaue Datum blieb deshalb im Gedächtnis, weil das Kennenlernen über ein Dating-Portal im Internet zustande kam. Nancy war 61, Dick 62, und ebenfalls verwitwet. Nach drei Jahren platonischer Freundschaft funkte es dann richtig: Auf einem gemeinsamen New-York-Trip wurde erstmals ein Hotelzimmer geteilt. Vom Temperament her ergänzen sich die beiden bestens: Sie leicht chaotisch, auffallend, redselig und extrovertiert; er kontrolliert, zurückhaltend, eher schweigsam und in sich gekehrt. Für ein Biopic würde ich sie mit Diane Keaton besetzen, ihn mit Tommy Lee Jones. Achtzehn Jahre nach ihrem Kennenlernen sitze ich mit den beiden bei unserem Lieblings-Mexikaner in Georgetown, bei »Don Lobo’s«. Und staune unvermindert, wie sich zwei so zusammenraufen können, die aus so unterschiedlichen Vorleben kommen. Nancys leichten Hang zum Chaos gleicht Dick mit Engelsgeduld aus. Ein symbiotisches Paar. Wenn da nicht die Politik wäre. Dick ist Erz-Republikaner. Nancy durch und durch progressiv. Knallt’s da nicht oft? »Mir gefällt ein gepflegter Streit!«, lacht sie. Er schweigt. Am 3. November 2012, als Barack Obama wiedergewählt wurde, waren die beiden bei Nancys Buchklub-Freundinnen eingeladen, allesamt leidenschaftliche Demokratinnen. Es ging hoch her an diesem Abend. »Für mich grenzte das an Missbrauch«, erinnert sich Dick grummelnd an diesen Abend. Und erzählt kopfschüttelnd von einer Freundin von Nancy, die gelegentlich vorbeischneit, die Zeitung aufschlägt und ihn anfaucht: »Dann wollen wir doch mal schauen, was deine Republikaner uns heute wieder angetan haben!«
Dass ein politischer Riss durch ihre Familie geht, ist Nancy von Kindesbeinen an gewöhnt. Ihr Vater war Republikaner, ihre Mutter Demokratin. Kein einfaches Elternhaus, aus dem sie stammt. Nancys Vater, Herausgeber mehrerer Zeitungen in Vermont, fiel einem Gewaltverbrechen zum Opfer. Unter Mordverdacht stand Nancys Mutter, eine Alkoholikerin, deren Trinken ständiger Anlass für erbitterten Streit war. Die Tat wurde nie aufgeklärt. Nancys Vorfahren, die Belknaps, sind familiengeschichtlich so etwas wie amerikanischer Adel. »Meine Großmutter hat immer voller Stolz betont, unsere Familie sei auf der Mayflower in die Neue Welt gekommen«, erzählt sie. Im Jahre 1620 hatte das mythische Schiff 102 Pilger aus Plymouth im Hafen von Provincetown, heute Massachusetts, abgesetzt. Die Mayflower wurde zu einer amerikanischen Ikone. In den Adern waschechter Mayflower-Nachfahren fließt blaues Blut. Nancys Großmutter war aufgrund dieses Stammbaumes Mitglied der ebenso prestigeträchtigen, wie elitären Frauenorganisation »Daughters of the Revolution«. Doch die hat sie später aus Protest gegen deren Rassismus verlassen. Nancys Großeltern väterlicherseits waren aus Irland eingewandert, während der Großen Hungersnot auf der Grünen Insel. Wie so viele Iren ließen sie sich in Boston nieder. Später zogen die Belknaps weiter nach Vermont, wo Nancys Großvater mehrere Lokalzeitungen herausgab.
So verwurzelt Nancy schon lange in Washington ist, sosehr ist sie doch Vermonterin geblieben. Bis heute hat sie ihren Führerschein, der in den USA auch als Personalausweis dient, nicht auf Washington umgeschrieben. Niemals würde sie die Vermont-Kennzeichen von ihrem Mercedes abschrauben. Vermont, sagt sie, sei eben eine ganz andere Art zu leben als im Rest des Landes. Vermont war immer linker, liberaler, ökologischer als der Rest der USA. Kein Zufall, dass das politische Urgestein Bernie Sanders, ein selbsterklärter »demokratischer Sozialist«, aus Vermont stammt.
Dick stammt aus Chicago und weiß nur wenig über seine Familiengeschichte. Die war in seinem Elternhaus kein Thema. »Ich bin im gleichen Krankenhaus geboren wie Ernest Hemingway«, erzählt er gerne. Seine Geschwister kamen in Philadelphia und in Boston zur Welt. Die Eltern waren Arbeitsmigranten. Dick hat als Lobbyist für die Agrarindustrie Karriere gemacht. Lange Jahre war er beruflich auf Puerto Rico stationiert. Spanisch gelernt hat er als Student im spanischen Salamanca. Bei politischen Debatten hält er sich zurück.
Anders Nancy: Politisches Engagement zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Leben. Nancys erste Ehe mit einem kanadischen Architekten scheiterte daran, dass diesem ihr Engagement in der Kommunalpolitik nicht passte. »Paul wollte, dass ich daheim am Herd bleibe«, erzählt Nancy, »und nichts anderes tue, als unsere vier Söhne aufziehen.« Aus dieser Ehe brach sie aus, brannte durch nach Europa, wo sie sich einige Zeit herumtrieb, in Jugendherbergen übernachtete, in Hameln dem Rattenfänger nachspürte und in Lübeck ihre Lieblingssüßigkeit entdeckte: Marzipan von Niederegger. Nancy war 38 Jahre alt, als sie von ihrem Selbsterfahrungstrip zurückkam.
Es folgten die kreativsten und energiegeladensten Jahre ihres Lebens. Nancy beriet Haftanstalten darin, Gefängnisgärten anzulegen. Und schrieb ein Buch darüber: »The Prison Garden Book«. Sie heiratete Rick Douglas, der mit 24 an multipler Sklerose erkrankt war und im Rollstuhl saß. Mit ihm arbeitete sie an der bahnbrechenden Gesetzgebung »Americans with Disabilities Act«, kurz ADA, die bis heute Menschen mit Behinderung das Leben leichter macht. Rick starb, kurz bevor wir Nancy kennenlernten.
Knapp zwanzig Jahre später sitzen wir gemeinsam an Nancys Grab. In Vermont. Wo sonst? »Douglas/Flinn« steht auf dem Grabstein. Rick liegt dort bestattet. Nancys Namen hat der Steinmetz schon hinzugefügt. Nach ihrem Tod will sie bei Rick liegen. Doch das hat sie verfügt, bevor sie Dick kennenlernte. Nancy sieht sich selbst als Katze. Mit neun Leben. Weil sie mehrere schwere Krebserkrankungen überstanden hat. So chaotisch und lebensuntüchtig sie manchmal erscheint: Nancy liebt das Leben. Und das Leben lässt sie nicht los.
Dick ist ein Republikaner der alten Schule. Er befürwortet einen schlanken Staat, niedrige Steuern, wenig Wohlfahrt und ausgeglichene Haushalte. Ein Reagan-Republikaner. Konservativ in Haushaltsangelegenheit, in sozialen Fragen eher liberal. Die Spaltung des Landes besorgt ihn mehr als alles andere. Gleichzeitig hat Dick »seinen Frieden damit gemacht, heute deutlich weiter links zu sein als in jüngeren Jahren«. »Ist das wegen mir so?«, will Nancy gleich wissen. »Nein!«
Für Republikaner ist nichts ehrenrühriger, als sich für sein Land zu entschuldigen; »to apologize«, das bedeutet im konservativen Jargon, sich anderen gegenüber kleinzumachen. Schwäche zu zeigen. Ich frage Dick, warum Barack Obama so ein rotes Tuch für ihn ist. Er habe sich ständig entschuldigt für Amerika, findet Dick. Den Vorwurf kenne ich: »Er war acht Jahre auf Entschuldigungstour«, schreiben rechte Publizisten gerne über Obama. Acht Jahre lang habe der Amerika kleingemacht. Dick nennt das Beispiel Klimapolitik: »Wir zerstören unsere eigene Kohleindustrie«, argumentiert er, »und lassen China oder Indien ihre krasse Umweltverschmutzung durchgehen!« Und Michelle Obama, die habe bei der Amtseinführung ihres Mannes gesagt: Zum ersten Mal im Leben sei sie stolz, eine Amerikanerin zu sein. »Dafür habe ich kein Verständnis!«, schnaubt Dick.