Sand und Asche. Peter Gerdes

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Sand und Asche - Peter Gerdes

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Rampen, mit denen alle Stufen und Treppchen überbrückt waren, hatten einen Belag aus schwarzem Gummi. Anscheinend waren Rollstuhlfahrer hier nichts Ungewöhnliches.

      Das Zimmer war recht geräumig, die Einrichtung im Schleiflack-Stil wirkte solide und ebenso praktisch wie schematisch. Eine schmale Glastür führte zu einem winzigen Balkon. Lüppo Buss spähte hinaus: Hochparterre. Also eher eine Terrasse.

      »Natürlich konnte Angela leicht dort hinaus«, sagte Sina Gersema scharf. Sie schien Lüppos Blick sofort bemerkt und gedeutet zu haben. »Aber ebenso gut konnte sie das Gebäude auch durch den Haupteingang verlassen. Schließlich sind wir hier keine geschlossene Psychiatrie, sondern eine Klinik für Essstörungen. Unsere Patienten sind hier, weil sie hier sein wollen.«

      »Aber sie müssen sich bestimmten Regeln unterwerfen, stimmt’s?«, konterte Fredermann. »Und die Einhaltung dieser Regeln wird überwacht. Wer dagegen verstößt, hat Ausgangssperre, soviel ich weiß. Oder arbeiten Sie hier etwa nicht mit Sanktionen?«

      Die junge Frau errötete leicht. Eine steile Falte erschien über ihrer Nasenwurzel. »In der Tat, es gibt Sanktionen«, bestätigte sie. »Obwohl längst nicht jeder hier von der Richtigkeit solcher Maßnahmen überzeugt ist. Und natürlich werden die Patienten überwacht, in mehr als einer Hinsicht. Das brauchen sie, sonst wären sie nicht hier. Aber das bedeutet nicht, dass irgendjemand mit Gewalt daran gehindert würde, mal an die frische Luft zu gehen.«

      Fredermann schnaubte geringschätzig. »Inkonsequenz hilft doch niemandem«, grummelte er. »Außerdem haben wir es hier nicht mit einer illegalen Spaziergängerin zu tun, sondern mit einer toten Patientin. Ihrer Patientin.«

      Lüppo Buss hielt sich aus dem Disput heraus. Solange die beiden nichts anfassten, sollten sie sich seinetwegen über den richtigen Umgang mit Essgestörten zoffen. Er schaute sich lieber um.

      Der Raum sah aus wie frisch verlassen, recht ordentlich, aber mit den üblichen kleinen Anzeichen, dass er bewohnt war: Zeitschriften, ein Buch neben dem Bett, ein leerer Teebecher auf dem Beistelltisch. Keine Wäsche auf dem Boden, und auch die Schuhe standen säuberlich beieinander neben dem Kleiderschrank. Angela Adelmund schien eine Ordentliche gewesen zu sein. Hätte sie ihr Zimmer verlassen, um es nie wieder zu betreten, wäre es gewiss picobello aufgeräumt gewesen.

      »Dieses Zimmer muss kriminaltechnisch untersucht werden«, sagte der Inselpolizist. »Ich werde es versiegeln, sobald die erste Inaugenscheinnahme beendet ist.«

      Fredermann schaute ihn konsterniert an; es schien eine Weile zu dauern, ehe er merkte, dass sich das Wortungetüm Inaugenscheinnahme auf das bezog, was sie hier gerade taten.

      Sina Gersema hingegen nickte sofort.

      Lüppo Buss zog ein Paar Latexhandschuhe aus der Tasche und streifte sie über. Wo beginnen? Bei der Schreibtischschublade, entschied er. Der wahrscheinlichste Aufbewahrungsort für Schriftstücke. Vorsichtig zog er die Lade auf.

      Papiere, sorgfältig gestapelt. Obenauf lag ein gefalteter Zettel im DIN-A4-Format, liniert, offenbar aus einem Schreibblock gerissen. Etwas stand darauf, in großen Blockbuchstaben.

      Lüppo Buss zog den Zettel heraus und las laut vor: »WENN ICH TOT BIN«.

      Selbst Fredermann bekam runde Augen. »Doch ein Abschiedsbrief?«, fragte er. »Wie passt das denn …«

      Der Oberkommissar brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Er faltete das Blatt auseinander. Der Text war kurz.

      »Wenn ich tot bin, will ich eingeäschert werden. Mein Körper soll brennen. Meine Asche soll am Osterhook verstreut werden, am Strand und in den Dünen. Alles, was ich besitze, soll mein Bruder bekommen.« Und eine kindlich wirkende Unterschrift. Angela Adelmund.

      »Kein Abschiedsbrief«, sagte Lüppo Buss, »sondern ein Testament.«

      »Und was für eins«, ergänzte Fredermann, der mitgelesen hatte.

      »Ach«, sagte Sina Gersema. »Sie hatte einen Bruder?«

      8.

      Sieht aus wie ein zertretener Schuhkarton, dachte Stephanie, als die Fähre einlief. Und glaubte sich mit einem Déja-vu-Erlebnis konfrontiert. Hatte sie das nicht schon einmal gesehen? Und gedacht?

      Natürlich, der Schulchor. Die Reise nach Langeoog, das Trainingslager, die Auswahl für die begehrte Reise in die USA. Damals hatte sie genau hier gestanden, am Kai in Bensersiel. Allerdings nicht alleine wie jetzt. Zu viert hatten sie über das in ihren Augen nicht eben stylische Gefährt gewitzelt.

      Stephanie fühlte sich zurückversetzt in eine Zeit, in der alles neu und spannend und aufregend gewesen war und das Leben ein einziger großer Spaß. Wie lange war das jetzt schon her, ein halbes Leben? Natürlich nicht. Keine zwei Jahre. Ein Zeitraum, in dem sich in ihrem Leben viel geändert hatte, sehr viel. Und in dem sie dieses Leben fast verloren hätte.

      Verstohlen schaute sie sich um. Der Kai war voller Menschen, und es kam ihr vor, als starrten alle nur sie an. Was natürlich Blödsinn war, denn alle starrten erwartungsvoll der Fähre entgegen, genau wie sie selber auch. Schließlich war Juli, also Urlaubszeit, es war Mittag und sonnig, wenn auch etwas kühl und windig, und die Touristen strömten nur so nach Langeoog und auf die anderen ostfriesischen Inseln. Nordrhein-Westfalen hatte schon seit einer Woche Ferien, in Niedersachsen war heute letzter Schultag gewesen. Hochsaison.

      Die Bugschrauben der Fähre wühlten beim Anlegemanöver schlammiges Hafenwasser auf. Noch so ein Anblick, an den sie sich gut erinnerte. Schließlich war sie in Ostfriesland aufgewachsen und hatte die Inseln häufig besucht. Für die Urlauber aber war das vermutlich ein richtig aufregendes Schauspiel. Die hielten einen halbstündigen Fährtrip durchs Wattenfahrwasser ja auch für eine abenteuerliche Seefahrt.

      Ausnahmslos alle Urlauber aber zog die Schlammspritzerei doch nicht in ihren Bann, stellte Stephanie fest. Mancher der Umstehenden hatte tatsächlich auch Augen für sie. Männer vor allem, junge wie ältere, aber auch zwei, drei Frauen. Sie kannte das, dachte sich gewöhnlich nichts dabei. Heute aber war ihr das extrem unangenehm.

      Was, wenn sie nun doch jemand erkannte?

      Sie hatte alles dafür getan, dass das nicht passierte. Ihr langes, hellblondes Haar war dunkel gefärbt und im Nacken zu einem formlosen Knoten gebunden, ihre blauen, leicht schräg stehenden Augen und die hohen Wangenknochen waren hinter einer großformatigen Sonnenbrille versteckt, ihren Körper hatte sie in einen unförmigen, schlammbraunen Parka gehüllt, die langen Beine steckten in dunklen Jeans. Dazu trug sie schmuddelige Chucks, Turnschuhe aus Segeltuch, die sie schon vor zwei Jahren hatte wegwerfen wollen. Nur gut, dass ihre Füße seither nicht mehr gewachsen waren.

      Ihren Rucksack hatte sie sich nur über die rechte Schulter gehängt, denn ihre linke Seite war noch sehr empfindlich. Sie spürte die Verbände unter der weiten Kleidung zwicken. Bis auf diesen erträglichen Schmerz fühlte sie sich vollkommen fit, obwohl der Anschlag erst sechsunddreißig Stunden her war. Daddys Ärzte hatten grünes Licht für die kurze Reise gegeben. Außerdem warteten auf Langeoog ja bereits weitere Ärzte auf sie.

      Eine schriftliche Anmeldebestätigung für die Klinik trug sie bei sich. Auf den Namen Steffi Ventjer. »Gleiche Initialen. Falls einige deiner Kleidungsstücke noch gekennzeichnet sind«, hatte Daddy schmunzelnd erklärt. Gott, machte ihm dieses Versteckspiel etwa auch noch Spaß? Sie hatte nur gelächelt und nichts darauf geantwortet. Auch nicht, dass sie ihr letztes mit Wäschestift markiertes Kleidungsstück schon vor fünf Jahren in den Lumpensack gesteckt hatte.

      Endlich

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