Die List der Schildkröte. Elisabetta Fortunato
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die List der Schildkröte - Elisabetta Fortunato страница 16
Nonna, wollte sie rufen. Aus ihrem trockenen Hals kam nur ein Krächzen. Nonna.
Eine Tür fiel ins Schloss, dann Stimmen. Fröhliche Stimmen. Das konnte nicht sein. Sie hatten doch alle geschrien, gerufen, geweint, geklagt in dieser verfluchten Nacht, als das Erdbeben ihr Leben zerstört hatte.
Wieder hörte Giovanna Geräusche, die nicht passen wollten. Ein Wagen, der gerollt wurde, eine Tür, die aufgeschlossen wurde, neue Stimmen, diesmal gedämpft und ruhig. Sie strich sich die verschwitzten Haare aus dem Gesicht und versuchte, den Atem zu kontrollieren. Sie war nicht bei ihrer Oma. Sie war auch nicht in ihrem Schlafzimmer. Wo war sie dann? Erst jetzt sah sie, dass es im Zimmer nicht stockdunkel war. Die Vorhänge am Fenster standen eine Handbreit offen. Draußen wurde es gerade hell. Konzentriert schaute sie sich um und erkannte die Konturen einzelner Möbelstücke: Schreibtisch, Konsole mit Flachbildschirm und in der Ecke einen Sessel. Ein Hotelzimmer. Neben ihr raschelte das Laken. Sie machte sich steif. Wer lag da? Mit der Hand tastete sie vorsichtig auf die andere Seite des Betts und fand eine glatte, durchtrainierte Schulter. Mit einem Schlag waren die Nachtgespenster weg.
Giovanna setzte sich auf und lehnte sich an die lederne Bettpolsterung. Das kühle Material tat ihr gut. Ihr Kopf fühlte sich an, als würde er von spitzen Zähnen zerbissen. Die stechenden Schmerzen strahlten bis in die Haarspitzen. Sie hob die Hände, um sich an den Schläfen zu massieren, aber noch in der Bewegung zuckte sie zurück. Sie hätte schwören können, dass sich ihre Locken bewegt hatten, dass sie lebten. Sie sprang aus dem Bett und lief ins Bad.
Im Spiegel blickte ihr keine Medusa entgegen. Jedoch war das Bild, das sie abgab, nicht weniger beunruhigend. Ihre Gesichtshaut schimmerte fahl, zwischen der Nasenwurzel und den Mundwinkeln hatten sich zwei tiefe Kerben eingegraben und die Augen, die grünen sonst so leuchtenden Augen, verschwanden fast in den Tiefen einer dunklen Bucht. Sie war über Nacht hässlich geworden! Automatisch fasste sich Giovanna in die Haare, um sie zu einem dicken Knoten zu drehen, und entdeckte einen knallroten Knutschfleck am Hals. Auch das noch. Sie ließ die Haare los, füllte das Waschbecken mit kaltem Wasser und spritzte es sich mit beiden Händen ins Gesicht.
Danach sah sie nicht besser aus, dafür konnte sie klarer denken. Aber das war auch nicht schön. Denn erst jetzt, in diesem anonymen Badezimmer, alleine mit sich und dem grausamen Spiegelbild, erfasste sie die volle Tragweite ihres Handelns vom Vorabend. Sie hatte eine große Dummheit begangen, una grande cazzata. Und wieso? Weil sie an die Unschuld ihres Freundes geglaubt hatte, der wohl so unschuldig nicht war.
Sie musste sofort zur Polizei und die Kiste, die sie unter Sonnys erstauntem Blick mit ins Hotelzimmer genommen hatte, abgeben, ansonsten würde es schwierig, wenn gar unmöglich, zu erklären, dass sie mit der Sache nichts zu tun hatte. Nichts, obwohl sie die einzige Vertraute des Professors gewesen war. Nichts, obwohl er den Schließfachschlüssel in ihrem Wagen versteckt hatte. Und schon gar nichts, obwohl auf der Holzkiste eine an sie gerichtete Botschaft geschrieben war. Wenn sie nicht gleich handelte und der Polizei zuvorkam, würde aus der Dummheit eine Straftat werden. Andere kamen für weniger ins Gefängnis.
Allein der Gedanke daran machte sie schwindlig und sie musste sich am Waschbecken festhalten.
Als sie in Neapel Geisteswissenschaften studiert hatte, war sie morgens und abends an den hohen Mauern des Carcere di Poggioreale entlanggelaufen, einem der größten und berüchtigtsten Gefängnisse Italiens. Sie hatten sie verfolgt, die Stimmen, die über die Mauern flüchteten und von Gewalt und Willkür erzählten. Die körperlosen Hände, die jenseits der Gitterfenster verzweifelt nach Gerechtigkeit suchten, aber nur leere Versprechungen zu fassen bekamen.
Diese und viele andere Tropfen des kaputten neapolitanischen Alltags hatten sie innerlich ausgehöhlt und genau eine Woche nach ihrem Studienabschluss war sie nach Bologna geflüchtet.
»Beruhige dich, Giovanna«, sprach sie sich Mut zu. »Du bist nicht in Süditalien. Hier in Deutschland ist die Polizei anders. Ihr kannst du vertrauen, sie ist gewissenhaft. Weder lässt sie sich belügen, noch begnügt sie sich mit einfachen Lösungen. Sie wird so lange den Fall verfolgen, bis sie ohne Zweifel sagen kann, was Karl-Friedrich getan hat. So lange, bis klar ist, wieso. Ja, Giovanna, hab keine Angst. Die Polizei wird das tun. Die Polizei muss das tun. Ohne Vorurteile. Bis die Wahrheit ans Licht kommt. Sie ist unbestechlich.«
Mochte ihr noch so vieles an Deutschland nicht gefallen, auf die Staatsgewalt konnte sie sich verlassen.
Giovanna stieß sich vom Waschbecken ab. Jetzt, wo die Entscheidung gefallen war, ging es ihr nicht schnell genug mit der Morgentoilette. Bevor sie das Bad verließ, rieb sie den Knutschfleck dick mit der Bodylotion des Hotels ein und zog die noch feuchten Haare darüber lang. Dann machte sie das Licht aus und kehrte ins Schlafzimmer zurück.
Wie kann ein Mensch nur so ruhig schlafen, fragte sie sich irritiert, während sie im halbdunklen Zimmer ihre Kleider zusammensuchte. Sonny lag noch so, wie sie ihn verlassen hatte, auf der Seite, den Arm über der Decke ausgestreckt, das Bein angewinkelt. Nur sein Atem war tiefer geworden.
Als sie angezogen war, stellte sie sich ans Bett und betrachtete ihn. Am liebsten hätte sie sich neben ihn gelegt und sich von seiner Ruhe wie von einer Krankheit anstecken lassen. Aber sie musste weg. Um sich zu retten. Sie war ihm am Vorabend ohne zu zögern ins Hotel gefolgt, gegen jede Vernunft. Lag es an den verwirrenden Ereignissen der vergangenen Tage, die sie zugänglich für seine Nähe machten? Oder lag es an ihm? Es machte keinen Unterschied. Im Kokon des Hotelzimmers hatte es nur einen Mann und eine Frau gegeben, und ihre Lust aufeinander.
Viel hatten sie in der Nacht nicht geredet. Schon gar nicht über das, was zwischen ihnen war. Was Sonny wollte, was sie ihm bedeutete, wusste sie nicht. Sie wollte es auch nicht wissen, so wenig, wie sie wissen wollte, wie das Gefühl hieß, das sich wie ein Ölteppich auf ihrem inneren Meer ausbreitete und sie mit seinem geheimnisvollen Glitzern zu locken versuchte, während sie selber nur bis zu den Knöcheln im Wasser stand, zaudernd, ob sie hineinspringen sollte oder nicht. Einfach, weil sie nicht sehen konnte, was sich darunter verbarg.
Mir fehlt der Mut für dich, Sonny Omowura.
Giovanna beschloss zu gehen, ohne sich von ihm zu verabschieden. Sie griff nach der Kiste mit dem Kultwagen und war schon an der Zimmertür, als sie es sich anders überlegte und noch einmal zurückkehrte. Vor der Konsole zog sie sich den Leopardenschal vom Hals und legte ihn neben seinen aufgereihten Schmuck. Dann verließ sie das Zimmer, angestrengt darauf bedacht, sich nicht dem aufgewühlten Meer zu nähern.
Der Kultwagen hatte sich in der Nacht nicht in Luft aufgelöst. Leider. Dick verpackt lag er in der Kiste, die sie hoffnungsvoll geöffnet hatte, kaum dass sie die Hotelgarage betreten und ihren Wagen aufgesperrt hatte. Giovanna verschloss den Holzdeckel und schlug den Kofferraum so fest zu, dass der Fiat erzitterte. Sie setzte sich ins Auto, parkte aus, fuhr aus der Garage und schlängelte sich im morgendlichen Verkehr Richtung Polizeipräsidium. Schon nach wenigen Metern war Schluss. In der Stephanstraße hatte es einen Auffahrunfall gegeben. Seufzend nahm sie den Gang raus und zog sich die Ärmel des Pullovers über die Hände. Die italienische Heizung kam gegen die deutsche Kälte nicht an.
Selten war sie so früh in der Innenstadt unterwegs. Durch die beschlagene Scheibe beobachtete sie die Passanten. Ein kräftiger Wind zerrte wie ein quengelndes Kind an deren Kleidern und es war eher ein wackeliges Gleiten, denn ein Laufen, das sie auf