Die große Zerstörung. Andreas Barthelmess
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Die Menschheit schreitet also immer schneller voran. Anfangs sieht das stetig linear aus, tatsächlich jedoch befinden wir uns in einer exponentiellen Funktion. So besagt etwa das in den 1960er-Jahren formulierte sogenannte Moore’sche Gesetz, dass sich die Rechenleistung von Computerprozessoren alle ein bis zwei Jahre verdoppelt. Nach einem Zyklus ist die Leistung doppelt so hoch wie zuvor, nach zwei Zyklen viermal, nach drei achtmal, nach vier 16-mal, nach fünf 32-mal und so weiter: exponentielles Wachstum eben. Wir kennen den Graphen dazu noch aus der Schule. Erst bewegt er sich mit kaum wahrnehmbarer Steigung quälend langsam, anscheinend linear auf der Y-Achse hoch. Endlich, da hat man schon drei Viertel der X-Achse hinter sich, nimmt er ein bisschen Fahrt auf, jetzt geht es langsam los nach oben – und, rums, ist der Graph schon fast senkrecht durch die Decke geschossen.
Das liegt auch an den supraleitenden Prozessoren, die künftig zum Einsatz kommen werden. Früher kannte jedes Bit nur zwei Zustände, 0 oder 1. Heute arbeiten Quantencomputer wie Sycamore von Google bereits mit sogenannten Qubits, die, einfach gesagt, viele verschiedene Werte annehmen können. Operationen, für die klassische Computer noch mehrere Hundert Jahre gebraucht hätten, rechnen Quantencomputer binnen Minuten.
Also lautet die dritte Grundannahme dieses Buches: In der großen Disruption geht auch der technische Fortschritt durch die Decke. In diesem Zeitalter leben wir heute.
Mitte des 15. Jahrhunderts revolutioniert Johannes Gutenberg das Druckwesen. Bis dahin hatte man Texte mit der Hand abgeschrieben. Bei einem dicken Buch kostete das viel Mühe, Zeit und Geld. Als Gutenberg den Buchdruck mithilfe beweglicher Lettern erfand, konnte man plötzlich ein einmal gesetztes Buch hundertfach drucken: so etwa die berühmte Gutenberg-Bibel. Ohne sie wiederum hätte sich die von Luther angestoßene Reformation nicht so schnell verbreiten können, wie es im 16. Jahrhundert geschah. Eine wichtige Rolle bei der Emanzipation vom autoritären Katholizismus und Papsttum spielten auch schnell und billig zu druckende Propaganda-Flugblätter, die den Papst als Esel oder mit Scheißhaufen in der Hand auf einer Sau reitend zeigten: »des Teufels Sau, der Papst«, so O-Ton Luther, der seine Tiraden heute sicher über Twitter raushauen würde. Schon mit der Druckerpresse gibt es also eine Art ökonomischen Netzwerkeffekt, wie wir ihn heute im Digitalen bei Facebook, Google und anderen beobachten.
Den aus der konfessionellen Spaltung Mitteleuropas entstandenen Dreißigjährigen Krieg hat Luther, all seiner Giftigkeit zum Trotz, genauso wenig gewollt wie Gutenberg. Und doch hatte die Revolution im Druckwesen erheblich Anteil an jener politischen Mobilisierung, deren Eskalation zum Krieg ein Drittel der Bevölkerung Mitteleuropas das Leben kostete. Technologische Innovationen können zu gesellschaftlicher Polarisierung, zu dramatischen sozialen Umbrüchen führen, bis hin zum Krieg.
Das gilt heute auch für Twitter. So hat der Watergate-Enthüller Bob Woodward in einem Interview mit dem US-amerikanischen Sender CBS erläutert, wie US-Präsident Donald Trump möglicherweise um ein Haar einen Tweet verschickt hätte, den Nordkorea als Kriegserklärung hätte deuten können: nämlich die Mitteilung, alle Angehörigen US-amerikanischer Soldaten aus Südkorea abzuziehen.
Heraklit meinte, der Krieg sei der Vater aller Dinge. Ich finde, das gibt dem Krieg zu viel der Ehre. Zwar gibt es Erfindungen, die ausdrücklich vom Militär bestellt wurden – etwa die Konservendose, die auf eine Preisausschreibung Napoleon Bonapartes zurückgeht, oder das unter der Naziherrschaft entwickelte Düsenflugzeug. Tatsächlich ist es aber häufig umgekehrt so, dass sich das Kriegswesen neue Erfindungen unter den Nagel reißt und für seine Zwecke nutzt, etwa das von Alfred Nobel erfundene Dynamit. Nobel, zu Lebzeiten gelegentlich als »Kaufmann des Todes« bezeichnet, stiftete die Nobelpreise, darunter auch einen für den Frieden, ganz so, also wollte er damit den Geist, den er aus der Flasche gelassen hatte, wieder zurückholen.
Aber das ist unmöglich. So führt es uns schon die Literatur vor Augen. Goethes Zauberlehrling ruft, als der von ihm belebte Besen das Haus unter Wasser setzt: »Ach, da kommt der Meister! / Herr, die Not ist groß! / Die ich rief, die Geister / werd ich nun nicht los.« Genauso geht es Victor Frankenstein, wenn ihn das Monster, das er selbst erschaffen hat, rachsüchtig bis zum Nordpol verfolgt. In Friedrich Dürrenmatts groteskem Theaterstück Die Physiker gibt sich ein Wissenschaftler absichtlich als Irrer aus, um zu verhindern, dass seine Entdeckung zur atomaren Weltzerstörung führt.
Was gesagt ist, ist gesagt. Was entdeckt ist, ist entdeckt. Worte und Erfindungen lassen sich nicht zurücknehmen und ungeschehen machen. So eröffnet jede Erfindung neue Entwicklungsmöglichkeiten, die missbraucht – oder aber zum Wohle der Menschen verwendet werden können. Der Buchdruck hatte nicht nur Einfluss auf die Religionskriege in Europa, sondern auch unzählige positive Folgen für die Entwicklung der Menschheit. Ohne ihn hätte es in Europa keine Aufklärung und keinen Aufstieg der Naturwissenschaft gegeben. Keine Gewaltenteilung und keinen modernen Staat. Keine Schulpflicht, keine Französische Revolution. Und auch keine demokratische Republik auf deutschem Boden.
Dreierlei können wir aus dieser Erzählung von Geschichte lernen. Erstens: Wer die technologische Innovation hat, hat auch die Macht. Luther hatte bei seiner Revolution gegen den Papst den technischen Fortschritt auf seiner Seite. Zweitens: Wer die technologische Macht hat, kann sie zum Guten verwenden oder missbrauchen. Einen solchen Missbrauch gilt es zu verhindern. Das ist Aufgabe der Politik. Und drittens: Der Fortschritt gehört anfangs nur wenigen. Wir müssen also die Vorteile, die er schafft, möglichst vielen Menschen zugänglich machen, das heißt, den Fortschritt demokratisieren, seine ökonomischen Erträge eingeschlossen. Dies ist ebenfalls Aufgabe der Politik, und das besonders dringlich im Falle technologischer Sprünge, wie wir sie gerade so dramatisch erleben wie nie zuvor. Die Politik wiederum ist in einer freien Gesellschaft Ausdruck des demokratischen Willens, und das bedeutet: Die Wähler entscheiden. Wir sind gut beraten, wenn wir aus der Vergangenheit lernen.
Machen wir uns klar: Der technische Fortschritt ist nicht aufzuhalten. Der Mensch entwickelt sich, evolutionär und kulturell, und damit ist auch der Fortschritt in der Welt. Einmal da, marschiert er, und wir laufen mit unserer Kultur, unseren sozialen und politischen Institutionen mit – im besseren Falle gleichauf, im schlechteren hinterher, im schlechtesten Falle abgehängt unter »ferner liefen«.
Das heißt zugespitzt, dass unsere Kultur und Politik Epiphänomene, also Begleit- oder Folgeerscheinungen des technologischen Fortschritts sind. Es ist wichtig, das zu verstehen. Der Fortschritt hat eine Eigendynamik. Wenn wir sie nicht rechtzeitig in den Griff bekommen, kann sie uns gefährlich werden. Davor warnen uns die Geschichten vom Zauberlehrling, von Frankenstein und von Godzilla.
Wir müssen die Eigendynamik des Fortschritts zähmen und zivilisieren. Sie so kanalisieren, dass möglichst viele, idealerweise sogar alle Menschen von ihrem Momentum profitieren. Wir müssen den Fortschritt ethisch vertretbar zu unserem Wohl arbeiten lassen. Dazu dient die Politik, und damit hatte sie im Laufe der Geschichte, allen Kriegen und Katastrophen zum Trotz, immer wieder Erfolg. Nachdem die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki gefallen waren und dort unverstellbares Grauen angerichtet hatten, gelang es den verfeindeten Blockmächten, einen Atomkrieg zu verhindern, das atomare Arsenal zu reduzieren und einen Atomwaffensperrvertrag ins Leben zu rufen. Zugleich entstanden Kraftwerke, die die Atomkraft friedlich zur Stromerzeugung nutzten.
Wir können den technischen Fortschritt nicht aufhalten. Wir können Erfindungen nicht zurücknehmen. Aber wir sind nicht das Kaninchen vor der Schlange, und wir stehen nicht machtlos vor einer wie auch immer gearteten Auto-Evolution der Technik. Wir müssen