Keine Zeit für Arschlöcher!. Horst Lichter
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Mein Vater Toni war zu Hause der Malocher, der Junge für alles. An seiner Ausbildung war keiner interessiert, er sollte sich gefälligst um den Hof, das Haus und die Großeltern kümmern. Den Lohn abgeben, reparieren, malochen und essen. Wenn Papa sich ein neues Fahrrad gekauft hatte, nahm es ihm sein älterer Bruder einfach weg und schmiss ihm sein kaputtes vor die Füße. Und wenn er sich beschwerte, dann interessierte das niemanden. Seinen Vater schon gar nicht. Und sein Bruder ballte nur vielsagend die Faust. Papa war so ’ne Art Aschenputtel. Der wurde einfach verschlissen. Das war früher in Arbeiterfamilien gar nicht so unüblich, dass man einen hatte, der brutal ausgenutzt wurde und alles machen musste.
So viel war also klar: Niemand war begeistert, wenn der sich um Mädchen kümmerte und vielleicht sogar eine eigene Familie gründen wollte. Schwierige Startbedingungen für eine Liebesbeziehung. Mutter erzählte mir, dass sie sich dann heimlich getroffen hätten, im Haus ihres Bruders – ohne Kontrolle durch ein älteres Familienmitglied ging damals nämlich gar nichts. Irgendwann hat Mutter dann Nägel mit Köpfen gemacht und verkündet: »Ich werde diesen Mann in einem Jahr heiraten.« Und so passierte es dann auch, sie heirateten ein Jahr später. Es war schön, ihr zuzuhören, aber auch sehr traurig. Mit der Hochzeit begann eine harte Zeit für meine Eltern.
Ich glaube, sie wollte mir einfach mal richtig erklären, warum sie nicht immer die gütige Mutter sein konnte, die sie eigentlich hatte sein wollen. Ich habe ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr alles verstanden, weil es so verdammt traurig war und ich weinen musste. Aber weinen durfte ich ja nicht, Mutter hatte mir verboten zu weinen. Wir hatten gefälligst stark zu sein, so wie sie. Immer war sie stark gewesen, ihr ganzes Leben. Das ist traurig, wenn man realisiert, dass hinter diesem Berg von Stärke ein großes Tal unterdrückter Gefühle versteckt liegt. Ich habe erst da verstanden, warum ich mittlerweile lieber weine. Wer nicht weint, ertrinkt innerlich in einem Meer voller Trauer. Aber wir Kinder sollten nicht weinen.
An diesem Abend war ich bis weit über Mitternacht bei Mutter, bis sie sagte: »Jung’, ich muss schlafen. Morgen früh ist die OP.«
Ich fuhr kurz ins Hotel. Morgens um sieben Uhr sollte sie zur OP abgeholt werden. Um halb sechs Uhr war ich wieder da. Habe versucht, sie ein letztes Mal umzustimmen: »Mutter, hier ist keiner böse, keiner sauer, wenn du jetzt deinen Koffer packst und mit mir nach Hause fährst. Jetzt sofort. Du kannst dich auch in zwei Monaten operieren lassen. In drei, in fünf Monaten, egal wann. Aber wir können jetzt noch fahren. Die sind froh, wenn sie das Bett hier leer vorfinden.« Vergebens. Mutter blieb stur: »Nein, Jung’, das mach ich jetzt. Ich will das jetzt alles raushaben. Das Böse muss raus.«
Als sie auf der Trage Richtung OP-Saal gefahren wurde, war ich fertig mit der Welt. Da brachen alle Dämme und meine ganze Verzweiflung musste raus. Ich habe nur noch bitterlich geweint. Alles in mir hat geschrien: »Geh nicht.« Aber ich konnte nicht schreien, nur weinen.
Die nächsten Stunden waren wie Tage. Ich fuhr zum Hotel, konnte aber nicht schlafen. Wieder raus, spazierengehen. Eine nach der anderen geraucht. Immer wieder mit Nada telefoniert. Es muss schrecklich für sie gewesen sein, weil ich entweder geheult oder ihr meine Verzweiflung geklagt habe. Als sich das Krankenhaus nachmittags endlich meldete, war ich ein Wrack. Die Information war eher dünn und wenig aussagekräftig. Irgendwie logisch, aber in dem Moment war es frustrierend: »Herr Lichter, Ihre Mutter ist jetzt auf der Intensivstation. Sie können jetzt vorbeikommen.«
Ich raste zum Krankenhaus. Als ich endlich vor Mutters Bett stand, war ich völlig schockiert. Dieses Bild vergesse ich nie. Grausam. Ihr eingefallenes Gesicht, die Schläuche, keine Zähne im Mund, die Zunge hing raus. Schrecklich. Wo war Mutter, meine geliebte Mutter? Alles, aber auch wirklich alles in mir sträubte sich, diese Person im Bett als meine Mutter zu betrachten. Nachdem ich zwei, drei Stunden bei ihr gesessen hatte, kamen die Ärzte: »So richtig wach wird sie heute nicht. Gehen Sie doch nach Hause, Sie müssen sich auch mal ausruhen. Sie können eh nichts für sie tun. Kommen Sie morgen früh wieder, dann sehen wir weiter.« Als ich am nächsten Morgen ganz früh zurückkam, sah Mutter schon etwas besser aus. Sie hatte die Brille auf und ihre Zähne wieder drin, da hatte sie wohl drauf bestanden.
Sie konnte nur schlecht sprechen: »So, Jung’, jetzt hab ich 40 Prozent schon geschafft und den Rest schaff ich auch noch.« Das hat sie echt gesagt. Und da hatte ich auch für einen Moment Hoffnung. Wirkliche Hoffnung, ich wollte das ganz fest glauben. Ich war glücklich, ich hab ganz einfach gedacht: »Da ist meine Mutter wieder, der alte Drache spuckt wieder Feuer. Die schafft das, wer sonst, wenn nicht Mutter? Die schmeißt den Krebs zur Türe raus.« Ich war euphorisiert und habe sofort der Familie gesagt, wie es aussieht. Und dass Mutter das schon irgendwie packen wird. Wahnsinn. Beseelt vom Rausch der Hoffnung. Ich hätte besser vorher mit den Ärzten gesprochen, dann wäre ich wahrscheinlich etwas nüchterner gewesen. »Herr Lichter, wie es aussieht, hat Ihre Mutter die Operation gut überstanden. Aber: Die Niere, die Milz, die halbe Bauchspeicheldrüse und ein Stück Darm waren auch schon betroffen.« Deutlicher ging es nicht: Die Ärzte hatten unfassbar viel rausschneiden müssen, weil so viel vom Krebs befallen war.
Es war längst schon viel schlimmer als geglaubt. Mein Höhenflug wurde jäh gebremst, und als ich abends wieder bei Mutter am Bett saß, war mein Eindruck, dass es ihr schon wieder deutlich schlechter ging. Der Pessimismus packte mich sofort unbarmherzig an der Gurgel. Aber diesmal waren die Ärzte etwas optimistischer als ich und meinten, nach so einer schweren OP sei es klar, dass der Körper sich erst einmal stabilisieren müsste. Trotzdem hatte ich ein schlechtes Gefühl, als ich ins Hotel zurückfuhr. Eine düstere Ahnung machte sich in mir breit. Sehr traurig war ich und niedergeschlagen.
Ich fand kaum Schlaf. Gegen vier Uhr morgens klingelte mein Telefon: »Wir haben Ihre Mutter gerade in den OP gefahren. Wir müssen eine Notoperation machen, sonst verblutet Ihre Mutter innerlich.«
Nach dieser Not-OP fing Mutter sich ein bisschen und ihr Zustand war zwar, den Umständen entsprechend, nicht gut, aber relativ stabil. Nada war mittlerweile wieder bei mir, um mich zu unterstützen. Unser Ziel war, Mutter davon zu überzeugen, das Krankenhaus zu verlassen, sobald sie fit genug war. Dann wollten wir mit ihr die restliche Zeit genießen, sie verwöhnen und pflegen. Ein hehrer Plan. Dafür ließen wir nichts unversucht. Zwei Tage lang redeten wir auf Mutter ein: »Mutter, wenn du das jetzt schaffst, dann holen wir dich hier raus. Wir fahren nach Venedig, wohin du willst.« Kataloge von Venedig, von den Kreuzfahrten, alles hatte ich mitgebacht, um sie wieder aufzubauen. Ich wollte ihr Mut machen, ihr ein schöneres Ende zeigen als Dahinsiechen im Krankenhaus. Natürlich wollte ich gute Stimmung machen. Ich wollte Mutter auf keinen Fall zeigen, wie ich mich wirklich fühlte: dass es mich innerlich fast zerriss, dass ich fertig war. Desillusioniert. Todtraurig.
Aber es war sinnlos. Sie wollte nicht mal mehr richtig mit uns reden. Sie hatte ihren eigenen Plan. Noch rückte sie nicht damit heraus, aber wir kamen auch so dahinter, nur wenige Tage später.
Wir waren morgens ins Krankenhaus gefahren und in dem Moment, als wir auf der Station eintrafen, kam uns Mutter im Bett entgegengerollt, mit einer Eskorte von Krankenschwestern und Ärzten. Eine erneute Not-OP sei sofort erforderlich, sagten die, und: »Herr Lichter, gut, dass Sie kommen. Ihre Mutter muss schon einwilligen, sonst wird sie sterben.« Da wurde mir schlagartig klar, was Mutters Plan war. Sie wollte sterben. Sie hatte mit dem Leben