Keine Zeit für Arschlöcher!. Horst Lichter
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Als ich ihr mal beiläufig erzählte, dass ich alle meine Schulden getilgt hatte, also das erste Mal in meinem erwachsenen Leben wirklich schuldenfrei war, da war sie noch glücklicher. Dass ihr unbelehrbarer Junge keine Schulden mehr hatte, war ihr mehr wert als das eigene Glück. Sie gehörte zu der Sorte Mensch, für die ein anständiges, schuldenfreies Leben mit gesichertem Arbeitsplatz gleichbedeutend war mit Glück. Glück war so was wie eine Konstante: Wer einmal geheiratet hatte, blieb auch verheiratet. Egal ob die Liebe irgendwann verloren ging. Das Leben ist schließlich kein Wunschkonzert. Diese Einstellung war ja in der Generation der Kriegskinder weit verbreitet.
Ich war dagegen seit meinem 14. Lebensjahr bereit, für meine eigene Definition von Glück was zu riskieren. Es zu suchen. Ich wusste immer, dass ich es zu Hause nicht finden würde und dass meine Mutter mir bei der Suche nicht behilflich sein würde. Ich würde gerne sagen, dass meine Kindheit eine glückliche war. Aber die Erinnerungen daran habe ich wohl verdrängt, das ist mir in den vielen Stunden an Mutters Krankenbett klar geworden. Meinen lieben, friedfertigen und ruhigen Vater habe ich schwer idealisiert, auch wenn mir bewusst ist, dass ich nur wenig Zeit mit ihm verbracht habe. Ob er auch von mir so heroisiert worden wäre, wenn er wie Mutter alles mit mir hätte regeln müssen … wer weiß?
Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass Mutter und ich ein sehr schwieriges Verhältnis zueinander hatten. Wir waren wohl nicht fähig, unsere Liebe von den ganzen charakterlichen Unterschiedlichkeiten zu trennen und mehr zu pflegen. Wir haben von unserer eigenen Standpunktinsel aus auf den anderen gesehen. Wir wollten, dass der andere seine Insel aufgibt, rüberkommt und sagt: »Stimmt, bei dir ist alles besser und richtig.« Aber so funktioniert das natürlich nicht.
Mutter hat in mir nur den Clown gesehen, der Blödsinn macht. Auch sie konnte ja durchaus locker und fröhlich sein und vielleicht wollte ein Teil von ihr öfter so sein wie ich – aber es war ihr nicht gegeben und war mir nicht gegeben. Wie ich jetzt da so saß in meinem stillen Hotelzimmer, wurde mir auf einmal klar, warum Mutters Sätze mich so verletzten. Ich wäre am liebsten sofort zu ihr zurückgefahren und hätte sie gefragt: »Mutter, was glaubst du, warum ich immer den Clown geben muss? Warum ich so oft Blödsinn mache? Weil das Leben für mich schon hart und bitter genug war, darum. Ich hab selber all die Jahre geglaubt, ich wäre die rheinische Frohnatur. Der liebenswerte Luftikus mit dem lustigen Zwirbelschnurrbart. Aber vielleicht bin ich das ja gar nicht? War das all die Jahre nur eine Methode, meine Traurigkeit in Schach zu halten?«
Ich merke, dass ich mich verändere – seit dem Tag, an dem Mutter mir sagte: »Hör endlich auf, der Clown zu sein, die Zeit für Spaß ist vorbei.« Wenn ich Spaß mache, dann nicht mehr so unbeschwert wie zuvor. Ich begann schmerzlich zu akzeptieren, dass es auch diese traurige, schwere Seite in mir gibt. Dass der fröhliche Horst Lichter von Bühne und Fernsehen nur ein Teil von mir ist und ich den anderen Teil, den traurigen, viel zu lange unterdrückt habe. Ich begann zu ahnen, dass ich nicht mehr allen Menschen gefallen möchte. Dass ich weder beruflich noch privat Zeit mit Menschen verbringen will, die es nicht gut mit mir und meinen Lieben meinen. Keine Zeit mehr für Arschlöcher.
Bisher habe ich mein Leben nach der Maxime gelebt, Konflikten möglichst aus dem Weg zu gehen. Am liebsten über Autos reden, über schnelle Mopeds und die angenehmen Seiten des Lebens.
Seit Mutters Tod unterhalte ich mich mit den Menschen lieber über ernste Dinge. Ich sehe viel Traurigkeit und möchte den Menschen gerne helfen. Die längste Zeit bin ich auch der Traurigkeit aus dem Weg gegangen. Ich war so lange harmoniesüchtig. Habe so lange lieber Blödsinn gemacht. Nach Mutters Tod hatte ich große Angst, dass ich diese Fröhlichkeit nicht wiederfinde, aber jetzt nicht mehr. Ich habe genug Platz in mir. Der Clown darf traurig sein und der Spaßmacher kann ernsthaft sein. Licht und Schatten, es gibt das eine nicht ohne das andere.
Ich bin mir heute ganz sicher, dass Mutter diese Sätze nicht böse, nicht nur verächtlich meinte. Sie wollte wohl, bevor sie stirbt, mit letzter Kraft auf mich einwirken, mir sagen: »Junge, hör auf, dir selber etwas vorzumachen. Finde zu dir, akzeptiere auch die ernsthafte Seite in dir. Versöhne die schwermütige Seite mit deiner heiteren Seite, bevor es zu spät ist. Du bist zu alt, um immer nur kindisch zu sein und allen Konflikten aus dem Weg zu gehen.«
Und wahrscheinlich konnte sie es so nicht sagen. Sie sagte es eben in ihren eigenen Worten. Strenge Worte zu sich, strenge Worte zu anderen. Manchmal auch unbarmherzige, nicht gerade gütige Worte. Aber ich weiß tief in mir drinnen, dass sie es gut meinte. Weil sie mich liebte – auf ihre Art und Weise. Schwer zu verstehen und schwer zu akzeptieren, aber ich bin auf einem guten Weg. Der unbelehrbare Clown lernt doch noch was. Danke, Mutter!
5. Mutters
Ende
»Hör endlich auf, der Clown zu sein. Die Zeit für Spaß ist vorbei, Junge. Geh jetzt und komm morgen wieder, wir müssen ernsthaft reden.«
Ernsthaft reden? Was Mutter darunter verstand, eröffnete sie mir am nächsten Tag. Sie zeigte mir ihre Patientenverfügung. Sie wollte, dass die lebenserhaltenen Maschinen abgeschaltet werden. Sie wollte nicht länger gequält werden. Wörtlich sagte sie zu mir: »Ich weiß, dass ich sterben werde. Ich möchte verbrannt werden. Ich will ein kleines Grab mit einem kleinen Stein drauf.« Und damit war Ende der Audienz.
Also habe ich ein paar Tage nach Mutters dritter Operation die Ärzte gefragt: »Wie lange hat Mutter noch?« Gute Idee, weil: Frag einen Arzt und du bekommst eine Meinung. Frag fünf Ärzte und du bekommst fünf Meinungen. Von drei Tagen, vier Wochen bis »Ihre Mutter hat ein starkes Herz, die packt das« war dann auch alles dabei. Dass Mutter ein starkes Herz hatte, war mir auch neu, Mutter hatte ja permanent von ihrem schwachen Herzen erzählt, wegen dem sie sich jahrelange täglich verschiedene Herzmedikamente reingepfiffen hatte. Völlig umsonst vermutlich, was für ein unglaublicher Schwachsinn. Die Ärzte wollten sie gerne auf der Intensivstation behalten, da wäre die Versorgung einfacher gewesen. Drei Patienten auf eine Krankenschwester statt zwanzig Patienten auf eine Pflegekraft. Aber Mutter zeigte auch in dieser Sache ihren unfassbaren Dickschädel. Ihr Kalkül war für sich gesehen logisch, aber trotzdem kindisch und absurd: Mutter wollte sterben, aber dachte sich, dass man sie auf der Intensivstation nicht sterben lässt. Sie meinte, wenn sie auf ein normales Zimmer käme – also ohne die ganzen Apparate und Tropfe –, dann würde sie ohne weiteres großes Leid schnell erlöst werden. Das war natürlich ein tragischer Irrtum.
Als wir sie endlich mit viel Glück in ein normales Einzelzimmer verlegen konnten – da registrierte Mutter entsetzt, dass die ganze Batterie mit Geräten und Spritzen-Armada auch dort installiert wurde. Und ab dem Moment sprach sie nie wieder ein Wort mit mir. Knallhart zog sie das durch: Sie redete weder mit mir noch mit Nada. Sie schrie, jammerte oder weinte auch nicht. Nein. Nix, gar nix. Mit ihrer Schwester und den Krankenpflegern redete sie. Aber nicht mit uns. Warum? Ich habe keine Ahnung. Jeden verdammten Tag frage ich mich, warum. Manchmal dachte ich, sie will mich bestrafen, manchmal dachte ich, sie will nur nicht jammern und bemitleidet werden. Verrückt war das, einfach unbegreiflich. Was hatte ich ihr angetan, dass sie nicht mehr mit mir reden wollte? Das Schlimme ist, dass ich es nie mehr erfahren werde, sie hat das Geheimnis mit ins Grab genommen. Zurück bleibt meine quälende Erinnerung: Wie sie da einfach nur stumm in ihrem Krankenzimmer liegt und in die Ecke starrt. Mit Panik in den Augen.
Während Nada und ich uns die ganze Zeit den Mund fusselig redeten. Sonst wird man irre. Oder wir waren es schon längst, schließlich sind wir morgens gekommen und den ganzen Tag bis auf kurze Unterbrechungen geblieben. Mutters Schweigen war schon schwer genug auszuhalten, aber nicht auszudenken, wenn wir auch nichts gesagt hätten. Stille kann so schmerzhaft sein wie Lärm. Wir führten also Selbstgespräche, erzählten Belanglosigkeiten aus der Nachbarschaft oder lasen aus irgendwelchen Regenbogen-Schmierblättern vor. Für alles