Wir sind wie Stunden. Michael Thumser
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Die Naturwissenschaft kategorisiert die Zeit oder Dauer als vierte Dimension neben den drei räumlichen der Länge, Breite und Höhe. Zugleich berücksichtigt die Psychologie sie als eine Dimension, die uns befähigt, Erlebtes zu gewahren, und dies subjektiv, ohne dass wir das Ticken eines Metronoms, das Hin-und-her eines Pendels, den zuckenden Gang eines Zeigers beachten müssten. Wenn wir in konzentriertem Wachzustand unseren Alltag der Gewohnheiten, familiären Prozeduren und beruflichen Termine durchqueren, läuft uns auf unserer ‚inneren Uhr‘ die subjektive Zeit so geschwind davon, dass wir keine Zeit zu haben meinen – so wenig, dass die Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik mahnte, es müsse endlich für „ein Recht auf Zeit zum Leben“ gesorgt werden: Zeitnot zähle inzwischen zu den gravierendsten Problemen der Gegenwart, durchaus mit materieller Not vergleichbar. Aber doch bleibt uns die Zeit erhalten, trotz Knappheit und Drucks, ob zusammen- oder auseinandergeschoben. Unverlierbar erhält sie sich in den Resultaten unseres Daseins. Etwa als Sechsjährige lernten wir, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu differenzieren, gaben aber dem Hier und Jetzt und Heute, das uns täglich mit Neuem überraschte, fieberhaft den Vorzug. Später führte uns das Leben aus den Wunderkammern und - tüten der Kinder- und Jugendjahre mit ihren schönen und misslichen, sämtlich ungekannten und zum ersten Mal gemachten Erfahrungen mehr und mehr heraus – mehr und mehr hinein in die Gleichförmigkeiten der erwachsenen Rhythmen und Routinen. Weil dem so war und ist, veranschlagen wir älter werdend und zurückschauend, gerne auch verklärend, die Dauer der frühen Jahre meist als weitaus länger als die der späteren und späten.
Vorher – jetzt – nachher: Um der Zeit einigermaßen habhaft zu werden, können wir uns, zusammen mit dem genannten Augustinus, grundsätzlich mit der Gegenwart behelfen, gleichviel, ob sie philosophisch als unendlich kleiner Punkt verschwindet oder neurobiologisch sich als Drei-Sekunden-Fenster öffnet. Auch der alte Theologe blieb dabei, dass die Zeit als Triade auftrete; aber er fand ihre drei Gestalten im menschlichen Geist sämtlich gleichzeitig anwesend: als „Gegenwart von Gegenwärtigem, nämlich Augenschein; [als] Gegenwart von Künftigem, nämlich Erwartung; [als] Gegenwart von Vergangenem, nämlich Erinnerung“.
Was jeder von uns an Erinnerungen festhält, stiftet sein bewusstes Selbst und macht ihn zum unaustauschbaren Individuum; nichts anderes stiftet die historische Erinnerung einer Gemeinschaft oder Gesellschaft: Identität. Indem der Historiker die Vergangenheit vergegenwärtigt, fasst er gliedernd und bewahrend das kollektive Gedächtnis in Worte. Fachleute wie Normalmenschen mögen gut daran tun, ihrem eigenen Gedächtnis nicht über den Weg zu trauen. Trotzdem kommen wir ohne nicht aus; im Gegenteil: Es ist eine unserer erstrangigen Gaben. Denn in ihm speichern wir, was unsere Sinne aufgezeichnet, was unser Bewusstsein wie unser Unbewusstes gelernt haben. Beide, Geist und Seele, sind Plattformen des Gedächtnisses, es diktiert sowohl unserem Denken wie unserem Verhalten. Als Gelenkstelle versöhnt es Philosophie und Psychologie, weswegen beide Disziplinen sich gleichermaßen dafür interessieren, und nicht weniger fällt es bei der naturwissenschaftlichen Erforschung unseres Nervensystems und seiner Leistungen ins Gewicht.
Innerhalb des Gehirns mit seinen ungefähr hundert Milliarden Neuronen und ihren zehn bis hundert Billionen synaptischen Verbindungen ermittelten Forscher mehrere Bereiche, in denen unser Gedächtnis agiert. Unsere Gedächtnisse: Das sensorische durchlaufen, für uns meist unbewusst, Myriaden von Außenreize in jagender, ununterbrochener Folge und gehen fast sämtlich binnen Sekundenbruchteilen wieder verloren. Das Wenigste verfängt sich als möglicherweise wesentlich für einige Sekunden im Kurzzeitgedächtnis. Nur Eindrücke, die das Gehirn bleibender Erhaltung für wert erachtet, hebt es zeitweilig, mitunter gar permanent im Langzeitgedächtnis auf; und nicht etwa in einem Stück. Vielmehr seziert es die Sache, bricht ihre formalen und funktionalen Wesenszüge auf und legt sie getrennt ab. Im Zug des Erinnerns dann fügen sich die Teile wieder zu einem Abbild des Urbilds zusammen. Obendrein erlauben sie uns Assoziationen und Vorstellungsverknüpfungen mit anderen, teils entlegenen Erlebnissen. So kann uns ein dralles Baby, das wir heute hätscheln, mit seinen runden, wohldurchbluteten Wangen an ein rotbackiges Äpfelchen zurückdenken lassen, in das wir vor Jahresfrist während des Urlaubs herzhaft bissen (und unser Reden vollführt die passende metaphorische Volte dazu: Wir haben, schmeicheln wir, das Kleine zum Fressen gern). Jenen Gedankenblitz holt unser Erinnern aus dem sogenannten episodischen Gedächtnis hervor, das, grob gesagt, unsere Autobiografie im Kopf mitschreibt. Dass wir aber den Apfel von einer Birne, sein Rot von ihrem Grün und die Frucht vom Baby unterscheiden, gewährleistet unser auf Fakten abonniertes semantisches Gedächtnis. Und dass wir, ohne erst lange nachzudenken, das Baby schonend fest und sein Köpfchen stabil hoch zu halten wissen, dass wir fast blind seine Windel zu wechseln verstehen, ohne erst das kinderpflegerische Rad neu erfinden zu müssen, das stellt schließlich das prozedurale Gedächtnis sicher.
Indes überkreuzen sich individuelles Erinnern und historisches Gedächtnis nicht bloß in den phänomenalen Leistungen des einen wie des andern, ebenso in einem notwendigen Mangel. Unausweichlich als begrenzt erweisen sich beider Erfahrungsschätze, weil das Gehirn das allermeiste, das uns begegnet, übergehen oder vergessen muss, um das vergleichsweise verschwindend Wenige aufzunehmen und zu behalten, das wichtig sein könnte. Als Mosaik aus oft gar nicht vielen Steinchen fügen sich unsere eigenen Erinnerungs- wie die Geschichtsbilder der Menschheit zusammen; die Fugen dazwischen füllen wir Durchschnittsmenschen, ganz so wie die Fachgelehrten beim Studieren und Deuten historischer Quellen, mit Mutmaßung und Verdacht, mit Gefühltem und Geahntem, auch schon mal mit Unterstellung und Fiktion.
Wirklich hilft der Wissenschaft bei der Verifikation ihrer Erkenntnisse stets auch die Falsifikation, die Widerlegung; wirklich bewahren uns Argwohn und Misstrauen vor leichtfertiger Gutgläubigkeit. Trotzdem dürfen wir daran glauben, dass weitgehend ‚stimmt‘, was die Geschichte uns davon erzählt, wies ‚damals‘ war. Wo Behauptung ist, ist Korrektur nie weit, aber im Großen und Ganzen passen die Konturen und Füllmengen in unserem Gedächtnis mit den entschwundenen Ereignissen zusammen.
Damit wir unser kollektives Gedächtnis, unsere kulturelle Erinnerung und erinnerte Kultur, mit strapazierfähigem Stoff füllen können, waren Paradigmenwechsel nötig, die teils Mirakeln gleichen. Vor etwa fünftausend Jahren schuf die Erfindung der Schrift die Möglichkeit, Gedachtes und Gedächtnis objektivierend und fixierend aus dem Kopf des Einzelmenschen hinaus zu verlagern. Vor etwa viertausend Jahren kam in Ägypten mit den ersten beschriebenen Papyri, aus denen ihre Verfertiger Rollen klebten, eine Vorform des Buchs auf, die der schriftlichen Darstellung umfänglicher und komplexer Gedankengänge und Tatbestände Tür und Tor öffnete. Vor etwa 1600 Jahren hatten sich Schreibkundige daran gewöhnt, ihre erarbeiteten Papyrus- oder Pergamentblätter zwischen Holzdeckeln zu einem Kodex zusammenzubinden. Vor etwa tausend Jahren vereinfachte und, vor allem, verbilligte Papier das Schreiben und die Buchbinderei. Vor