Wir sind wie Stunden. Michael Thumser

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Wir sind wie Stunden - Michael Thumser

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alten – Hin und Wider um die Frage: Wann beginnt ein Jahrhundert? Schon mit der Doppel-Null? Hob das 21. Jahrhundert, mithin das dritte Jahrtausend, im Jahr 2000 an oder doch erst am 1. Januar 2001? „Letzteres ist richtig: Ein Jahr null kennt die Ordinalzählung der Jahreszahlen nicht, so wie sich auch ein Neugeborenes von Geburt an in seinem ersten Lebensjahr befindet und dabei natürlich – streng genommen – null Jahre alt ist.“ Eine Dekade, etwa von Tagen, erkennen wir ja auch in einer Reihe vom ersten bis zum zehnten Tag und nicht vom ‚nullten‘ bis zum neunten. Wann auch immer: Vor der jüngsten Jahrtausendwende verbreiteten sich Endzeiterwartungen mittelalterlichen Ausmaßes pandemisch: Hätte der wie ein Teufel an die Wand gemalte, dann doch abgewendete millennium bug global Abermillionen Computer und elektronische Steuerungssystemen lahmgelegt, wäre die uns vertraute Welt tatsächlich bereits am 1. 1. 2000 untergegangen.

      Das Zählen – und das Vertun dabei – ist in der Fauna uns Menschen vorbehalten. Den Tag aber einigermaßen zu taxieren, das leisten entwickelte Tierarten auch. Wie unsere steinzeitlichen Ahnen orientieren sie sich zeitlich zwischen Sonnenaufgang und -untergang am Stand des Zentralgestirns, an der Menge von Licht und Wärme, der Länge der Schatten. Für sie ist aber ein Tag wie der andere. Zu Siebener-Einheiten integrierte die Tage humane Intelligenz, und humane Kreativität taufte auch sie auf Namen. Leicht einsehbar richten sich im Deutschen Sonn- und Montag nach Sonne und Mond; beim Dienstag standen, so vermuten Sprachhistoriker, der germanische Kriegsgott Tiwaz und sein Beiname Thingsaz Pate; in der Mitte der Woche, sofern wir sie nach traditioneller Zählung mit dem Sonntag beginnen lassen, steht triftig der Mittwoch. Als Namenspatron des Donnerstags firmiert Donar, der germanische Gott des Donners, als Patronin des Freitags seine Kollegin Freya. Wo der Sonnabend Samstag heißt, hält er Kontakt mit dem Sabbat der Juden. Erst recht flossen Erfindergeist, Versuche und Fehlversuche in reichem Maß zusammen, um dem Einzeltag ein – schon in der Antike bekanntes – Gerüst von zwei Mal zwölf Stunden unterzuschieben: zwölf Haltestellen, denn das etymologische Verwandtschaftsverhältnis der Stunde zu den Wörtern stehen und Stand lässt ahnen, dass es sich bei ihr ideell um eine Art angehaltenen, statischen Zeitpunkts handelt, um eine Verzögerung; jemandem etwas stunden heißt denn auch, ihm einen Aufschub zu gewähren, als hielte man die Zeit bis zur Fälligkeit an. Metaphorisch gesprochen: Mögen die Stunden auch rasen, so bietet uns die Stunde doch, solange sie dauert, einen Aufenthalt, um zu uns zu kommen und etwas zustande zu bringen.

      Einen scheinbaren Aufenthalt. Denn natürlich basiert die Funktion neuzeitlicher Uhren auf Bewegung, auf Schwingungen nämlich, ob es nun molekulare sind wie bei der Quarz- und der Atomuhr oder die mechanischen des (im sechzehnten Jahrhundert erfundenen) Pendels oder der gut 340-jährigen Unruh. Anders und doch wahlverwandt das Prinzip der mancherlei vormodernen Uhrmodelle: In der Wasseruhr der Antike, der Sanduhr des späten Mittelalters nahm das Quantum der Flüssigkeit oder der Körner, durch eine Öffnung im Gefäß entschlüpfend, ablesbar ab, bei der Öluhr sank der Pegelstand des Brennstoffs, bei der Kerzenuhr die Höhe des Wachsstocks, je mehr davon zur Flamme wurde … – je mehr Mangel am Brennmaterial herrschte, desto weniger Zeit ‚hatten‘ die Benutzer, bis sie nachrüsten mussten. Hinsichtlich der Energieversorgung bewahrt sich die vor etwa 3300 Jahren aufkommende Sonnenuhr naturgemäß die größte Unabhängigkeit, denn sie benötigt keine Triebkraft, nur Licht, das den wandernden Schatten wirft; und allerdings verliert sie bei bezogenem Himmel, erst recht im Dunkeln ihre Brauchbarkeit völlig. Indem die Europäer endlich die mechanische Uhr ersannen, liefen sie China und dem islamischen Orient den Rang als Vorreiter des Fortschritts in der Welt ab und machten sich selber dazu.

      Rund um die Uhr schufen wir ein ausgedehntes Symbol- und Metaphernfeld. Dass die Zeit verrinnt, versinnbildlicht wohl kein Zeitmesser eindringlicher als die Sanduhr; tatsächlich gehört sie, in der Hand des Knochenmanns, ikonografisch zu den beliebtesten Attributen für Allegorien der Sterblichkeit. Anders der mechanische Räder-Chronometer – dessen Erfinder, wohl ein genialer norditalienischer Klosterbruder am Ende des dreizehnten Jahrhunderts, leider anonym blieb –: Einerseits zwar verhalfen uns erst jene Uhren recht eigentlich zur Urbarmachung der Zeit, zum 24-Stunden-Tag, durch den wir uns hetzen lassen, demgemäß wir unsere Arbeitszeit beschränkend definieren und dem wir, in der Folge, auch unsere Freizeit verdanken. Andererseits können sie in uns die Hoffnung nähren, wir müssten gar nicht obsiegen beim redensartlichen Wettlauf gegen die Uhr, weil die in uns selber steckt. Für unsere Altvorderen spiegelten sich im aufs Feinste gearbeiteten Werk der Uhr die Regulative, die uneingreifbar im Kosmos, unantastbar im Staat walten, und es verschaffte ihnen immerhin eine Ahnung von Regelkreisläufen, wie sie auch ihre Körper buchstäblich am Laufen hielten. Noch immer kann uns der Rundlauf der Zeiger auf einem Zifferblatt mit der wenig willkommenen Vorstellung einer Wiederkehr des Immergleichen schrecken. Aber auch geradezu belebt kommt uns die mechanische Uhr mit den ineinander verzahnten, aufeinander zugreifenden Teilen ihres Innenlebens vor, zumal wenn sie, was seit etwa 1330 zunächst von Türmen herab geschah, aus unsichtbaren Tiefen mittels eines Schlagwerks Laut gibt, als besäße sie eine Seele und Stimme. So mag sie gelegentlich den Verdacht in uns nähren, auch der Mensch sei nicht viel mehr als eine Maschine, zu gut geöltem Wandel fähig, vorausgesetzt, es ergeben sich Möglichkeiten, sie rechtzeitig aufzuziehen, bis sie irgendwann ein letztes Mal abläuft und stehenbleibt. Andererseits schreiben wir, angeregt von der um 1270 aufgekommenen Hemmung – die das Gehwerk der Uhr bremsend daran hindert, auf einmal abzuschnurren –, auch unserem eigenen Lebenslaufwerk ein festes Metrum der Gemächlichkeit zu. Dabei behagt uns der gleichmäßige Wechselschritt der Hemmung durch seine Vergleichbarkeit mit einem gesunden Herzen und seinem rhythmischen Puls.

      Modelle der Geschichte

      Wann beginnt die Zeitrechnung? Weithin haben sich die Geschichtswissenschaftler daran gewöhnt, den Anfang der Frühgeschichte etwa mit dem Jahr 2000 vor Christus anzusetzen, die Antike, je nach Weltregion und Stand der Hochkultur, von 1000 vor bis 500 nach Christus zu platzieren, dem Mittelalter (ungeachtet der schrägen Fälschungsvorwürfe der Herren Illig und Niemitz) einen Spielraum von 500 bis 1500 freizuhalten und für die Epoche danach und seither von Neuzeit zu sprechen. „Nach Christus“: Wenigstens historisch bleibt der göttliche „Menschensohn“ christlichen Glaubens auch für Atheisten ein Bezugspunkt. Fromme Juden hingegen beziehen sich auf jene Woche vor trickreich errechneten 5781 Jahren, in der Gott die Welt erschaffen habe; und die Römer nahmen das sagenhafte Geburtsjahr ihrer Hauptstadt, 753 vor unserer Zeitrechnung, als Startpunkt für ihre Geschichte an.

      Aus heutiger Perspektive betrachtet, lebte der Mönch Dionysius Exiguus am frühesten Beginn des Mittelalters, um das Jahr 500 in Rom, als er aus gottgefälligen Gründen auf das heute fast universal gebrauchte System mit Christi Geburt als Ursprung verfiel. Weit entfernte er sich von den paganen Resten des zerfallenen weströmischen Imperiums, um sich ausschließlich auf die Biografie des Heilands zu verlassen. Aufgrund seiner – später als fehlerhaft erkannten – Berechnungen siedelte Dionysius das Jahr 1 neuer Lesart im römischen Jahr 754 ab urbe condita, nach Gründung der Stadt, an. Darum stehen die gängigen säkularen Vorstellungen von Geschichte und einer durch Gott tätig ins Werk gesetzten Heilsgeschichte nach wie vor untergründig in Kontakt.

      Über den Gang der Geschichte als Folge blinder Zufälle oder als invariables Kausalgefüge zerbrechen sich seit jeher weniger die Historiker als die Philosophen den Kopf, spätestens seit beide Zünfte getrennte Wege gehen. Besichtigen wir die Zeitalter aus dem Blickwinkel unserer persönlichen Erfahrungen, so erkennen wir – kosmische und Naturkatastrophen ausgeblendet – wohl nichts, das sich ‚ohne Not‘ zutrug: ohne Beweggründe und Absichten, die in den Menschen lagen. Nichtsdestotrotz muss unser Verstand an einem deterministischen Weltbild scheitern, das in allem eine vollständige Vorherbestimmung schalten sieht. Kaum jemand will die Welt für eine Megastruktur halten, von nichts als Gesetzmäßigkeiten konstituiert, in der alles was ist, gar nicht anders sein könnte, weil sonst alles, was zuvor war, hätte anders sein müssen. So manches unerklärliche Abenteuer – und selbst die Quantenphysik – belehrt uns, dass wir die Kategorien Ursache und Wirkung nicht allzu unverrückbar benützen sollten. Zwar wissen wir alle von größten Verhängnissen, die verhältnismäßig kleinsten Auslösern entsprangen; schwerlich aber glauben wir an den schon sprichwörtlichen Flügelschlag eines Schmetterlings in

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