Wir sind wie Stunden. Michael Thumser

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Wir sind wie Stunden - Michael Thumser

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sowie Mittelamerika. Als achtes Imperium erhöben nun Westeuropa und Amerika das Haupt am höchsten. Jede der Kulturen stehe für sich, keine beziehe sich in irgendeiner Weise auf eine der andern, es könne auch eine die anderen im Wesenskern gar nicht erfassen und ermessen.

      Etwa tausend Jahre habe jede der bisherigen dauern dürfen; während dieser Frist hätten ihre ursprünglichen, florierenden Anlagen tief gründend als Gesellschaftsformen aufblühen können, aber als oberflächlich-platte Zivilisationen wieder verwelken müssen. Etwa mit dem zwanzigsten Jahrhundert endeten auch die tausend Jahre des Abendlands, das der Studie den Titel gab. Dem Optimismus des Marxismus setzte der „morphologische“ Bestseller Spenglers, nach dem Ersten Weltkrieg Pflichtlektüre jedes reflektierenden Kopfes, einen Pessimismus entgegen, der jede Kultur auf Erden wie einen Menschen als lebendigen, mit einer „Seele“ begabten und unbedingt endlichen Organismus ansieht. Folglich misst er ihm die Lebensalter jeder menschlichen Biografie bei: eine Kindheit der Magie und der Mythen, eine leistungskräftige Jugend und eine Reifezeit selbstbewussten Schöpfertums; den Schluss markiert eine Spätphase, die ihre spielerische Originalität durch die Vulgarität der Massen in ihren immer größeren und engeren Städten, durch das Kleinklein der Routinen, den Stumpfsinn technischer und bürokratischer Gleichläufe, durch die Sperenzchen eines sich spreizenden, aber entleerenden Intellektualismus lähme und verschleiße. Aus diesem Sumpf könne allein ein neuer „Cäsar“ helfen, den Spengler nicht in Adolf Hitler, dafür in Benito Mussolini sichtete. Dem Glauben an einen Fortschritt und kontinuierlichen Aufstieg des Menschengeschlechts, wie Christentum, Hegelianer und Marxisten ihn hegten, versagte sich Spengler. Dafür scheute er, weil er zwischen den einander so gleichartigen Werde- und Untergängen der Kulturen Analogien fand, vor Wahrsagerei nicht zurück: Auf den 1400 Seiten seines Hauptwerks, so renommierte er, wage erstmals jemand den Versuch, „Geschichte vorauszusagen“ – Zukunft zu wissen.

      Weder „große“ Extremgestalten noch cäsarische Übermenschen bietet die Geschichte als Hauptverantwortliche für ihre Affären und Spektakel auf. Ebenso wenig kann sie explizit als Auskunftei oder als Regeln setzende, zu- oder abratende Lehrmeisterin für Gegenwart und Zukunft dienen, mag sie dafür auch von der Antike bis zu Oswald Spengler oftmals hergehalten haben. Heute herrscht allgemein die Auffassung, dass in ihrem Lauf zwar Ereignismuster wiederkehren; keinesfalls aber wiederholen sich ganze Perioden. Nicht einmal das Sinnbild der Spirale, auf der die Menschheit zwar nach oben strebe, aber von Runde zu Runde typische Reizpunkte immer wieder passieren müsse, taugt, schon gar nicht das Symbol des geschlossenen Kreises. Konsequent bis zur Monumentalität spann Spengler seine These aus; trotzdem infiziert sie die Geschichtswissenschaft kaum noch. Wenigstens mag sie als von Gescheitheit satte, ausufernd detailreiche, subtil krisenbewusste Phantasmagorie faszinieren. Durch den imposanten Wuchs ihrer Prämissen zeugt sie auffallend davon, dass die Geschichtsschreibung selbst ihre Geschichte hat. Denn „jedes Zeitalter“, so schrieb schon der Dichter und Karl-Marx-Freund Heinrich Heine, „wenn es neue Ideen bekömmt, bekömmt auch neue Augen“.

      Schluss machen

      Die Geschichte des Lebens auf Erden, umgerechnet auf die 24 Stunden eines einzigen Tags, lässt dem modernen Menschen nicht viel Zeit: Gerade mal seit drei Sekunden ständen ihm zu. Warum auch immer, entwickelten sich vor etwa 3,8 Milliarden Jahren, gleichsam um null Uhr, Organismen, die aus nur einer Zelle, erst ohne, dann mit Kern, bestanden. Für weit mehr als die Hälfte des Tages blieb es dabei. Erst nachmittags um vier fanden sich Mehrzeller ein. Noch einmal fünf lange Stunden später, um 21 Uhr, löste eine bislang unenträtselte Zündung die „kambrische Explosion“ aus: Mit ihr wuchs die Artenzahl von Schalen- und Weichtieren jäh und außerordentlich. Aus Vorformen der Wirbeltiere bildeten sich eine weitere Stunde danach Knochenfische, während auf dem nach und nach von Insekten und Skorpionen bevölkerten Festland erste Pflanzen sprossen. Dann zog das Tempo an: Um 22.15 Uhr tummelten sich Amphibien, bald auch Reptilien auf dem Trockenen, um 22.45 Uhr schufen sich die Dinosaurier Platz – aber nur für eine Viertelstunde. Vor etwa 66 Millionen Jahren – respektive um 23 Uhr – schlug ein fünfzehn Kilometer großer Gesteinsbrocken dort ein, wo heute die Halbinsel Yukatan auf dem Ozean liegt, verheerte das Klima und tilgte die Riesenechsen zusammen mit drei Vierteln aller anderen Arten vom Angesicht des Planeten. Als dessen Beherrscher traten für jetzt und fürderhin die Säugetiere auf den Plan. Zu guter Letzt blieb den Primaten ein schmales Minütchen vor Mitternacht, sich zu entwickeln und an mancherlei Seitenwegen vorbei schließlich unsere Spezies zu kreieren, den Homo sapiens.

      Die Krone der Schöpfung – das mag wohl sein – ist nicht er, sondern die Zelle: der potenziell unsterbliche Einzeller; das Ei. Dem Ende der Dinosaurier als dem fünften Massensterben im Lauf der Erdgeschichte folgt gerade jetzt, mit der von uns angerichteten Vernichtung einer horrenden Zahl von Tier- und Pflanzenarten, das sechste; Biologen sprechen von der „größten Katastrophe der Menschheitsgeschichte“. Wir Menschen brauchen die Natur; die Natur braucht uns nicht. Sie kann uns umso weniger brauchen, wie wir uns anmaßen, in die Uhrwerke ihres Gangs bedenkenlos hineinzugreifen, die ohne uns zu funktionieren begannen und ohne uns funktionieren würden und werden. In der Erzählung DER MENSCH ERSCHEINT IM HOLOZÄN aus der grandiosen Spätprosa des Schweizers Max Frisch sieht sich ein alternder Witwer, namens Herr Geiser, zu totaler Abgeschiedenheit verurteilt: Ein Bergrutsch und sintflutartige Regengüsse haben sein abgelegenes Haus von allen Zufahrts- und Fluchtwegen abgeschnitten, ein Stromausfall hindert Herrn Geiser daran, sich mit der gewohnten Alltagstechnik zu behelfen. Derart in eine vormoderne Monaden-Existenz zurückgestoßen, sammelt er aus allen ihm erreichbaren Quellen, was sich über die Geschichte von Welt und Menschen wissen lässt. Während sich die ihm vertraute Kulturlandschaft um ihn herum unbarmherzig zur Naturlandschaft zurück- und zum Schauplatz einer Apokalypse verwandelt, durchstreift der Einsame in Gedanken, lesend und schreibend seine Innenwelt, stellt sein Erinnern gegen das drohende Vergessen und Vergessenwerden. Schnipsel aus Lexika, Fach- und Sachbüchern fügt er zu einem Erkenntnisfragment zusammen, in dem Naturwissenschaft („Die Summe der Energie bleibt konstant“) und Mythos („Verwandlung von Menschen in Tiere, Bäume, Steine etc. Siehe: Metamorphose“) sich schneiden. Am Ende versucht Herr Geiser, der Vereinzelte, der Abtrennung von allem zu entkommen. Erwartungsgemäß scheitert er tödlich. Die Natur muss ihn, den Gleichgültigen, nicht erst verschmerzen. Sie nahm ihn gar nicht zur Kenntnis.

      Kaum den Einzelnen, wohl aber die Menschheit nimmt die Natur zur Kenntnis. Heute sehen sich immer mehr Wissenschaftler vieler Fachbereiche mit schlechtem Gewissen, aber aus gutem Grund veranlasst, auf dem 4,5 Milliarden Jahre langen Zeitstrahl, den die Erde schon im All zurücklegte, das Holozän für abgeschlossen zu halten und unseren Einstieg ins Anthropozän festzustellen. Der Äon, in dem die Menschheit ihre natürlichen Bedingtheiten hinter sich lässt: Etwa mit dem Jahr 1950 setzen die Autoritäten seinen Beginn an, als die „Große Beschleunigung“ Fahrt aufnahm, die erdgeschichtliche Phase, da der Mensch die Geo-, Bio- und Atmosphäre immer unverfrorener und folgenreicher manipuliert. Solche Einflussnahme bekommt uns nicht gut: Wie das Holozän das Zeitalter unseres Werdens, Wachsens und Wirkens auf dem Weg zur Vernunft war, ist das Anthropozän ein Zeitalter – vielleicht Endzeitalter – unserer Hybris, unseres Leichtsinns und unseres allfälligen Unvermögens, auch nur kleiner Weiterungen unseres selbstherrlichen Großprojekts Herr zu werden, das da heißt: „Wir sind wie Gott“.

      Immerhin, zu den Errungenschaften unserer Evolution gehört die Reflexion: Wir überlegen uns, worum es sich handelt bei der Zeit, wir wissen uns ganz und gar eingebunden in die dynamischen Prozesse der Welt und von vielen davon direkt oder mittelbar betroffen, und wir analysieren, wie uns dies widerfährt. „Der Mensch“, notiert bei Max Frisch der am äußersten Rand des Holozäns angekommene Herr Geiser, „der Mensch gilt als das einzige Lebewesen mit einem gewissen Geschichtsbewusstsein.“ Aber eben das verliert sich; auch dadurch – und vielleicht gerade dadurch – gibt das Anthropozän sich zu erkennen. Im Zeichen unserer schon jetzt schier unermesslichen Möglichkeiten erscheint es als Zeitalter überhaupt schrankenloser Machbarkeit: als Epoche einer „künstlichen Intelligenz“, die wir willentlich in die Lage versetzen, durch maschinelles Lernen Wirkungsräume unserer eigenen Intelligenz weit zu überbieten und unseren Willen auszumanövrieren.

      Im

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