Wir sind wie Stunden. Michael Thumser

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Wir sind wie Stunden - Michael Thumser

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Debatten, Zwänge und Erinnerungen, indem er uns die Gewaltigkeit der Zeiten und ihrer Dauer als Schock vergegenwärtigt. 1991 trat uns schlagartig ein Mann aus dem schwindenden Eis des Tisenjochs entgegen: ein Mann aus der Jungsteinzeit und doch ein Mann aus Haut und Knochen. So anschaulich mumifizierte der Südtiroler Dauerfrost den „Ötzi“, dass wir ihm 5300 Jahre nach seiner Ermordung wie einem unlängst Verstorbenen ins Gesicht blicken und Paläobiologen in seinen Innereien lesen, woraus er sich seine letzte Mahlzeit bereitet hat. Sogar lebendige Überbleibsel aus noch weit ferneren Vergangenheiten beschert uns die Erde, als ob sie unserem handspannenlangen Dasein spöttisch eine Nase drehen wollte. „Unser Leben“, wussten schon die biblischen Psalmisten, „währet siebzig Jahre, und wenns hoch kommt, so sinds achtzig Jahre“; in einem Wiener Labor hingegen gedeiht eine Lichtnelke der Gattung Silene linnaeana, die aus 32 000 Jahre alten Samenresten gezogen wurde und sich ohne viel Aufwand vermehren lässt: zart prangende Blüten aus der Eiszeit.

      Schluss macht die Geschichte nie, mag es auch dreizehn schlagen, uns die Zeit lang werden und das Maß voll erscheinen. Anfang ist immer. Und das Ende ist da, nur lässt es noch auf sich warten.

      Von vorgestern bis gestern

      Das Phantom, Ruhm genannt

      Zwischen Grazien und Grenadieren: König Friedrich II. von Preußen

      1

      Viel lesen wollte er in Rheinsberg, schreiben wollte er und Flöte spielen. Für den Königssohn war die Jugend traumatisierend hart verlaufen. Dann, als Ehemann und designierter Herrscher, durfte der preußische Kronprinz Friedrich auf dem Schloss, zwanzig Kilometer nördlich des brandenburgischen Neuruppin gelegen, wirklich ein paar glücklichere Jahre verleben: ein Wartestand voller Lektüre, Musik … und durchgeistigt vom regen Briefverkehr mit François Marie Arouet alias Voltaire, dem lichtvollen Franzosen. Jenem Philosophen (der später, im „sorgenfreien“ Schloss Sanssouci bei Potsdam, langjährig Gast des royalen Freundes sein sollte) übersandte Friedrich seinen ANTIMACHIAVELL, ein Essay, das Voltaire redigierte und publizierte. Darin beschrieb der Prinz die Person des Regenten zwar als absoluten Herrscher, doch zugleich als Freund der Untertanen, als Förderer der Wissenschaft und Kunst, als Wahrer von Rechtsstaatlichkeit und Frieden. Als Friedrich selber 1740 König wurde, verfuhr er denn auch nach jenem Ideal. Ein paar Wochen lang.

      Denn mit all dem wars vorbei, als in Wien Kaiser Karl VI. starb und seine Tochter Maria Theresia sich bereit machte, seinen Thron zu erben. Da kitzelte den Preußen dann doch die Streitlust, der Ehrgeiz des Eroberers. Ausersehen sah er sich, das bislang parvenühaft aufstrebende Preußen der Hohenzollern neben dem ein wenig müden, alt-blasierten Österreich der Habsburger als Spitzenkraft zu etablieren im Mächtekonzert des Heiligen Römischen Reichs.

      2

      Zum entscheidenden Feldzug wurde der Siebenjährige Krieg, der auch „dritter Schlesischer Krieg“ heißt; was impliziert, dass zwei ähnliche ihm vorausgegangen waren. Kürzer fielen sie aus, weniger blutig, für den König bei weitem nicht so schicksalhaft. Zwei Mal hatte er Maria Theresia überrollt: Gleich 1740 marschierte Friedrich erstmals in ihrem Schlesien ein – das Heer des Vaters hatte er, noch als Pazifist, schon mal um 10 000 Mann verstärkt. Zum zweiten Mal kämpfte er 1744/45 um die Provinz, um den bedrohten Raub zu sichern. Dann schien er satt.

      Andernorts indes eskalierte ein weltumspannender Streitfall: Als Kolonialherren standen England und Frankreich einander in Nordamerika und Indien gegenüber. In Österreich ernannte Maria Theresia den Diplomaten Wenzel Anton Graf Kaunitz zum Außenminister: Die beiden vereinte der Hass auf Preußen, die Begier, Schlesien wiederzugewinnen, die Überzeugung, dass der neu entstandene fatale Dualismus entschieden werden müsse, und zwar für Wien.

      Bald kreiste und schnürte ein Bündnis die Preußen ein: Zur „Großen Koalition“ hatten Österreich und Russland, Frankreich und Sachsen sich verbündet. Friedrich entschloss sich zum präventiven Erstschlag. Am 29. August 1756 fiel er ins Königreich Sachsen ein. Doch rasch wendete sich die Lage gegen ihn. Dem Anti-Preußen-Pakt trat Schweden bei, und das Reich beschloss den Reichskrieg gegen Friedrich. Zunehmend isoliert und defensiv, verbuchte er immer weniger Erfolge. Hatten seine Heere 1757 bei Leuthen in Schlesien den strahlendsten Sieg ihres Feldherrn erfochten, so markierte das Gemetzel bei Kunersdorf (nahe Frankfurt an der Oder) zwei Jahre später den Tiefpunkt – ein Totalzusammenbruch, der den längst maladen Monarchen hoffen ließ, ihn selber möge eine der „verwünschten Kugeln“ treffen. „Er trug Gift bei sich“, berichtet Thomas Mann, „für den äußersten Fall".

      Doch aufs Debakel folgte das Mirakel: Wie ein Wunder half dem am Boden Zerstörten der Tod der russischen Zarin und Erzfeindin Elisabeth auf. Ihr nämlich folgte Peter III. nach, ein glühender Parteigänger des Preußen, der sich mit ihm sogleich auf einen Waffenstillstand einigte – Anlass für eine allgemeine Versöhnungsbereitschaft der samt und sonders ermatteten Kombattanten. Neben manch anderem legte der 1763 geschlossene Frieden von Hubertusburg fest, dass Schlesien bei Preußen blieb; zusätzlich heimste es 1772, bei der Ersten Polnischen Teilung, Westpreußen und weitere Territorien ein. Fortan firmierte das Königreich als Großmacht in Europa – und stand zu Österreich in unausgleichbarer Gegenposition. In Übersee und Indien erstarkte England zur Führungskraft und schickte sich an, Weltreich und -macht zu sein, auf Kosten Frankreichs: Das war ruiniert.

      Und blieb es freilich nicht für immer. 1806 sollte der übermächtige Franzose Napoleon Bonaparte Preußen unter seine Stiefel treten. Doch bevor er die Hauptstadt betrat, hielt er in Potsdam. Denn nicht dem gegenwärtigen König Friedrich Wilhelm III. wünschte der Kaiser seine Aufwartung zu machen, sondern dessen totem Großonkel: Friedrich II., „der Große“, ruhte dort, übrigens gegen seinen Willen, in der Garnisonskirche. Zwanzig Jahre vor dem hohen Besuch war der „Alte Fritz“ am 17. August 1786, 74-jährig, auf Schloss Sanssouci verblichen. Vor dem Sarkophag soll Napoleon andächtig geäußert haben, er selber stünde nicht hier, würde Friedrich noch leben.

      Für einen Großen hielt jener Bezwinger Europas sich selbst, nicht anders als der Protagonist einer mindestens ebenso zwielichtigen, dabei weitaus pompöseren Visite. Am 21. März 1933 trat Adolf Hitler im selben Gotteshaus auf, um sich am „Tag von Potsdam“ leibhaftig und mehr noch ideell neben dem verewigten Monarchen zu postieren. Hatte der sein Preußen zur europäischen Großmacht erhoben, so dachte der Diktator, die „Macht ergreifend“, über die halbe Welt zu herrschen.

      3

      Friedrich der Große war ein kleiner Mann, höchstens 1,60 Meter hoch, von zähem, doch eher dürftigem Bau. Auserwählt fühlte er sich dennoch, „das Große zu erniedrigen“, womit er das im Römisch-Deutschen Reich vorherrschende Habsburg meinte. Bevor er „groß“ wurde, drohte er mehrfach von entschlossenen Feinden bezwungen zu werden – ein Draufgänger, bei dessen Triumph das Glück kräftig nachhelfen musste. Vielleicht darum blieb er, was ihn selber betraf, vergleichsweise bescheiden. „Als Philosoph“, verfügte er, wolle er begraben werden, „ohne die geringsten Zeremonien, nachts, im kleinsten Gefolge, beim Schein einer Laterne.“

      Friedrich war ein weiches Kind. „Recht fett und frisch“ kam er am 24. Januar 1712 im Berliner Stadtschloss zur Welt, als Sohn eines „Soldatenkönigs“: Der, Friedrich Wilhelm I., führte zwar nur ein Mal und nur kurz Krieg, frönte aber allem Militärischen bis zur Besessenheit. Dem sachten Knaben suchte er jeden Sinn fürs zweckfrei Schöne, die Lust an Dicht- und Tonkunst, auch die enge Bindung an die Schwester Wilhelmine, die spätere Markgräfin von Bayreuth, gründlich auszutreiben. Aufs Grausamste kujonierte er ihn darum und unterließ es nicht einmal, den Thronfolger vor Zeugen prügelnd zu demütigen. Ein Fluchtversuch missriet dem 18-Jährigen – das kostete ihn selbst beinah das Leben und seinen Freund und Helfer Hans Hermann von Katte den Kopf. Bei der Exekution hatte Friedrich von einem Fenster aus genauestens zuzusehen.

      Endlich zu Kreuze kriechend, ließ sich Friedrich vom unerbittlichen

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