Norderende. Tim Herden
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Den ganzen Vormittag waren Malte und er durch die Sanddornbüsche am Ende des Wiesenweges in Vitte gekrochen. Sie hatten die leuchtend orangefarbenen Beeren von den Ästen gestrichen und in Plastikeimer gefüllt. Einziger Schutz gegen die Stacheln an den Ästen waren ein paar alte Lederhandschuhe und gegen mögliche Schlangenbisse hohe Gummistiefel.
Rieder hatte es auch nicht besonders lustig gefunden, als ihm Malte erst mitten im Dickicht der Sanddornbüsche erzählt hatte, dass ihm genau hier vor einem Jahr ein Wildschwein begegnet war.
„Wildschwein?“, hatte Rieder ungläubig gefragt.
„Ja, war nicht groß. Vielleicht so.“ Malte hatte die flache Hand auf die Höhe seiner Hüfte gehalten.
„Das nennst du nicht besonders groß?“ Rieder hatte sich umgedreht und nach einem Fluchtweg Ausschau gehalten. Aber Fehlanzeige. Sie waren schon so tief im Buschwerk verschwunden, dass es bereits unter normalen Bedingungen einige Mühe gekostet hätte, wieder herauszufinden.
„Wie kommen die Schweine auf die Insel?“
„Schwimmen rüber von Rügen. Und hier vor Vitte können sie gut ans Ufer klettern.“
Rieder hatte einen Riesenrespekt vor Wildschweinen. Während seiner Dienstzeit in Berlin war er im Grunewald mehrmals ganzen Rotten begegnet. Einmal hatte er sich mit seinem Partner Tom Schade nur knapp ins Auto retten können, als eine Horde angriffslustig aus dem Unterholz auf sie zugestürmt war.
„Letztes Jahr“, hatte Malte Fittkau weiter geplaudert, „da haben wir am Seglerhafen ein totes Schwein aus dem Bodden gefischt. Ein Brocken.“ Er hatte dabei die Arme weit ausgestreckt. „Das wäre ein Braten gewesen. Ist im Eis eingebrochen und nicht wieder rausgekommen.“
„Werden die Schweine denn auf der Insel gejagt?“
„Meist nicht. Der Bürgermeister hat sich extra eine Flinte gekauft. Aber dann kamen die Naturschützer. Biosphärenreservat! Wir lassen der Natur ihren Lauf!“, hatte Fittkau geantwortet und dabei kurz mit der Hand eine Scheibenwischerbewegung vor seinem Gesicht gemacht. „Schau mal bei deiner nächsten Patrouille etwas tiefer in den Wald am Dornbusch. Schön durchgepflügt. Ob das der Natur so gut tut?“
„Aber ich habe noch nie ein Schwein gesehen.“
„Warst du schon mal nachts am Leuchtturm?“
Rieder hatte zwar in den sechs Monaten, in denen er jetzt auf Hiddensee Dienst tat, aus der Ferne nachts oft das blinkende Licht der Leuchtturms auf der Nordspitze der Insel gesehen und als beruhigend empfunden. Aber zu später Stunde war er noch nie dort oben gewesen.
„Wir können ja mal eine Tour machen und nach den Schweinen schauen“, hatte Fittkau angeboten. Rieder hatte offen gelassen, ob er diese Offerte wirklich annehmen wollte.
Stefan Rieder war im April auf die Insel gekommen. Zuvor war er Hauptkommissar bei einer Mordkommission in Berlin gewesen. Heute fiel es ihm zuweilen schon schwer, sich an dieses frühere Leben zu erinnern. Es war für ihn weit weg. Die Gewalt in Berlin. Die ewigen Schichten im Kommissariat. Die endlosen Nächte, wenn Verdächtige beschattet werden mussten. Die Aktenstapel ungelöster oder laufender Fälle. Das Einzige, was ihm fehlte, war sein Partner Tom Schade. „Jung, mach dir mal kein’ Kopp“, war immer einer seiner Lieblingssprüche gewesen, wenn ihnen ein Fall die letzte Kraft zu rauben schien. Schades rheinischer Lebensmut hatte einfach gutgetan und war ansteckend gewesen. Doch irgendwann hatte auch das Rieder nicht mehr aufgebaut.
Eines Morgens hatte Rieder am schwarzen Brett eine Stellenausschreibung der Polizeidirektion Stralsund entdeckt. Sie suchten einen Polizisten für ein Projekt zur Verbrechensprävention in den Tourismusgebieten an der Ostseeküste. Testort sollte die Insel Hiddensee sein. Er hatte die Stellenanzeige einfach abgerissen und noch am Abend die Bewerbung zur Post gebracht. Seine Zeugnisse waren gut. Mehrfach war er für die Aufklärung von komplizierten Fällen belobigt worden. Seine Besoldungsgruppe passte. Stralsunds Polizeidirektor Bökemüller hatte zwar zunächst einige Bedenken gegen den Mann aus der Hauptstadt, dann hatte er aber doch Rieders Bewerbung, inklusive Rückkehrrecht nach Berlin innerhalb von zwei Jahren, zugestimmt.
Anfang April war Rieder im Polizistenhimmel angekommen. Auf der Insel Hiddensee. Statt Autolärm Meeresrauschen. Statt aggressivem Gebrüll Testosteron-gesteuerter Jugendlicher entspannte Touristen, die über die Insel wanderten.
Ein Quartier hatte Rieder im Wiesenweg in Vitte gefunden. Dort hatte er ein kleines Kapitänshaus gemietet. Es lag mitten auf einer grünen Wiese. Der Zaun zur Straße war überwuchert von einer Rosenhecke, die seit Rieders Ankunft rosa blühte. Jetzt im frühen Herbst begannen sich die Blüten in rote Hagebutten zu verwandeln.
Hier auf der Insel war Rieder seit langem der Wechsel der Jahreszeiten wieder richtig bewusst geworden. Als er ankam, standen in den Vorgärten noch Narzissen und Tulpen. Dann, im späten Frühjahr versanken die Hänge des Dornbuschs im Insel-Norden im gelben Meer des Ginsters. Der Sommer kam, die Zeit der Kirschen und der Königskerzen. Nun kündigten die prallen violetten Brombeeren auf dem Friedhof in Kloster und die orangefarbenen Beeren des Sanddorns den Herbst an. Ein wenig hatte Rieder Angst vor dem Winter, wenn das Leben auf der Insel erstarb. Auf seine Frage, was denn der Hiddenseer außerhalb der Saison tun würde, hatte Malte nur ein Wort gesagt: „Warten.“
Malte Fittkau kam über die Wiese geschlendert. Er wohnte auf dem Nachbargrundstück und betrieb eine kleine Ferienpension. Mit Kapitänsmütze, Latzhose und Gummistiefeln wirkte er wie ein traditioneller Hiddenseer Fischer. Allerdings hatte er das Handwerk nie ausgeübt. Er verfügte zwar noch über ein paar Fischrechte im Bodden, die er von seinem Vater geerbt hatte, nutzte sie aber nicht einmal für den Eigenbedarf. Die Tracht war eher als Inselfolklore für seine Gäste gedacht.
Ohne seinen Nachbarn Malte hätte Rieder vielleicht schon an seinem Wechsel von Berlin nach Hiddensee gezweifelt. Doch Malte hatte Rieder auf der Insel Tür und Tor geöffnet und ihn auch mit der Lebensart der Insulaner vertraut gemacht. Malte kannte einfach jeden und wusste alles. Sein heimlicher Spitzname war „Inselfunk“. Er stand Rieder bei den kleinen Widrigkeiten des Lebens zur Seite – anders als in der Großstadt gab es hier keine Baumärkte und kaum Handwerker, wenn man ein Ersatzteil brauchte oder etwas zu reparieren war. Dafür gab es Maltes goldene Hände.
„Wieder fit?“, fragte Malte und deutete auf Rieders zerschundene Arme.
„Geht schon.“ Der Polizist wollte nicht als städtischer Softie erscheinen.
„Dann können wir weitermachen.“
„Was?“
„Den Sanddorn quetschen.“
Rieder sah seinen Nachbarn verständnislos an.
„Die Beeren müssen durchs Sieb für den Saft. Ich habe sie schon mal ein bisschen abgekocht, damit die Schale etwas weicher ist und die Saftpresserei leichter geht.“
„Aha. Gibt’s da nicht ’ne Saftpresse oder so was?“
„’ne Saftpresse?“ Malte schüttelte befremdet den Kopf.
Rieder