Gehen, um zu bleiben. Klaus Muller
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Der Leser, wird erstaunt sein, dass ich so viel Mühe auf mein Geldbündel legte, seine Erhaltung geradezu als existenziell betrachtete. Es ist aber so, dass Unterschichtler, von denen ich ja abstamme, bei der Erkennung von Wünschen sich immer selbst fragen müssen: „Wie will ich das bezahlen?“ Die Finanzierung ist daher die erste Frage, bevor die Hauptfrage: „Wie willst du es tun?“, angegangen werden kann.
Wie gefährlich das Grenzsystem der DDR sein kann, hatte ich nun gerade erlebt, musste sogar mit Niedertracht und Dummheit rechnen, denn sie hatten meine harmlose Rundreise mit Penelope durch das periphere Thüringen als Vorbereitung zum illegalen Grenzübertritt gewertet, wie ich erst nach der Wende aus meinen Stasiunterlagen erfahren konnte. Der Bande war es aber doch gelungen, mir durch meine eigene Dummheit Angst zu machen, und das kreidete ich ihnen schwer an. Wer mich bestiehlt, betrügt oder verprügelt, der kann mit Nachsicht rechnen, bin ja in solchen Fällen auch meist selbst schuld, wem es aber gelingt, mir Angst zu machen, was schwer genug ist, den betrachte ich als Todfeind.
Alle Furcht vor dem Misslingen meines großen Plans, der letzte „Italienreisende“ oder „Romantiker“, im Gegensatz zu den Touristen, zu werden, war nun verschwunden, die Polizeistreife in Warnemünde hatte meine Vorsicht nur noch geschärft. Aber auch mein Willen, dieses System zu überlisten, es mit meinen schwachen Mitteln zu besiegen, war jetzt unwiderruflich gefestigt.
Alle Rationalität aus meinem bisherigen Leben als quasi Kleinbürger, das Rechnen nach Kosten und Nutzen, verdrängte ich von nun ab völlig. Ich musste mal raus, um bleiben zu können in diesem wunderbaren, von moskowitischer Misswirtschaft verunstalteten Land.
Segelsommer
Mit dem Anfang des Jahres 1983 begann auch mein Kursus zum Erwerb des Segelscheines für die Binnengewässer und die Seewasserstraßen, deren praktischen Teil ich am Zicker See schon abgelegt hatte. Der theoretische Teil zum Erwerb des Segelscheins wurde in einem Hörsaal der Rostocker Universität abgehalten, die Teilnehmer waren alle, wie ich meine, Universitätsmitarbeiter oder hiesige Studenten, ausschließlich männlichen Geschlechts.
Ein Dozent brachte uns Kursteilnehmern die theoretischen Grundlagen des Bootsbaus, der Meteorologie, der terrestrischen Navigation und der Segelkunde bei. Das Hauptgewicht der Veranstaltung lag aber auf den Bestimmungen des Seeverkehrs und der Betonung, speziell des Lateralsystems und den Besonderheiten des Grenzsystems an den Seegrenzen der DDR.
Mit einem kecken Unterton sagte der Dozent, mit erhobenem Finger: „Und vergessen Sie nie, die Sicherungskräfte der ‚Grenzbrigade Küste‘ haben das Recht der Nacheile, können also Grenzverletzer auch noch außerhalb der Staatsgrenze der DDR in internationalen Gewässern aufbringen und ihrer verdienten Strafe zuführen!“
Der Winter war noch nicht zu Ende, da hielt ich meinen Segelschein in den Händen, er war DIN A6 (Postkartengröße) groß und auf einem wachstuchähnlichen Gewebe aufgedruckt, den ich nun ständig bei mir in der Brieftasche trug.
Über den Winter 1982/83 war ich, nach einer 14-tägigen Schnellausbildung, als Filmvorführer im Rostocker Filmtheater „Capitol“ tätig, und dort wurde mir eine wichtige Erkenntnis für die Vorbereitung meines Vorhabens zuteil.
Die exakten Ränder des Leinwandbildes werden durch schwarze Stoffvorhänge bewirkt, welche die Leinwand umrahmen. Die äußeren Ränder des Lichtstrahls, der aus der Vorführmaschine in den Zuschauerraum auf die Leinwand fällt, werden durch dieses schwarze Tuch völlig absorbiert, das schwarze Tuch bleibt trotz Lichtstrahl schwarz. So sollten auch meine Segel wirken, wenn ich nachts über die Ostsee segeln würde.
Soweit die Tarnung der Segel gegen Scheinwerferlicht, doch wie stand’s mit dem Radar?
Radar war eine Zaubertechnik, mit der schon die Engländer während des Zweiten Weltkrieges deutsche U-Boote geortet hatten und die von der Sowjetunion und ihren Satrapen zur Aufbringung von Flüchtlingen aller Art genutzt wurde. Die Radartechnik in ihrer Wirkungsweise wurde in jenem Theoriekursus zum Erwerb des Segelscheins zwar erläutert, hauptsächlich aber in ihrer Unüberwindlichkeit angedroht. Es musste aber auch eine militärische Radartarnung geben, dachte ich mir, schaute daher in der militärtechnischen Abteilung der „Norddeutschen Buchhandlung“ in der Kröpeliner Straße in Rostock, in ein entsprechendes Lehrbuch, das für die Ausbildung der Marineoffiziere der „Volksmarine der DDR“ gedacht war und das ich sogar hätte kaufen können. In diesem Buch war tatsächlich ein ganzes Kapitel über Radartarnung vorhanden.
Mit heutigem Wissen muss ich sagen, dass dieses Lehrbuch noch veraltete Techniken unterwies. Immerhin hatte damals schon die US-Airforce ihre Steltbomber und entsprechende Überwasserschiffe, welche das Radar rein formgestalterisch zu unterlaufen suchten. Hier wurden aber Techniken aufgezeigt, die aus dem Zweiten Weltkrieg stammten, wo man die Aufbauten der Überwasserschiffe mit genoppten Gummiplatten belegt hatte, in der Hoffnung, so das gegnerische Radarbild zu stören. Die Erläuterung für die Wirkungsweise leuchtete mir aber ein.
Ich beschaffte mir also gummierten und genoppten Fußbodenbelag von einem Meter Breite, diesen schnitt ich in sieben Streifen von 20 bis 26 Zentimeter Länge, um den Mast von oben sieben Zentimeter bis unten neun Zentimeter Durchmesser belegen und mit einem Spezial-Kunststoff-Haftkleber anbringen zu können. Natürlich musste ich jeden dieser unterschiedlichen Streifen nummerieren und für die am Mast befindlichen Beschläge und die Anbringung mit verschiedenen Ausschnitten versehen.
Es wurde eine langwierige und komplizierte Arbeit, die ich während eines Aufenthaltes bei meinen Bekannten vom Segelverein in Groß Zicker bewältigte. Natürlich wurde die Anprobe der Noppenstreifen am Mast nachts vorgenommen, jeder Zuschauer hätte ja geahnt, was hier von einem „Straftäter“ gegen die DDR geplant wurde.
Die fertiggestellten und maßgerechten Tarnstreifen verpackte ich mit mehreren Büchsen des Spezialklebers und einer Büchse Lösungsmittel, Spachteln zum Bestreichen der Streifen und des Mastes sowie vier Schraubzwingen in einem größeren Plastesack und vergrub das auf dem Hügelkamm des Großen Zicker, exakt zwischen zwei großen Findlingen, die seit der letzten Eiszeit dort lagen. In den Ecken des Rasenausstichs, den ich mit einem Campingspaten gegraben hatte und nach dem Vergraben des Plastesacks wieder einsetzte, pflanzte ich zwei Strauchgewächse aus der Umgebung der Findlinge ein, damit ich das Vergrabene leichter wiederfinden würde, wenn ich es brauchte.
Das Ganze war natürlich eine Schnapsidee, wie ich bald bemerkte, denn das exakte Anbauen dieser Tarnung nur am Mast hätte ohne Tageslicht und ohne Helfer mindestens die halbe Nacht gedauert, und in dieser Zeit sollte ich schon weit draußen sein.
Zuvörderst musste ich aber erst einmal die xy-Jolle allein beherrschen lernen; dafür benötigte ich einen ganzen Segelsommer, ohne von schwerer und fortwährender Arbeit gestört zu werden. In Thiessow im Mönchgut, vis à vis von Groß Zicker, hatte ich einen Büffetleiterjob in einem größeren FDGB-Ferienheim im Blick, wollte das aber nur im Jobsharing betreiben, damit ich immer mal einige zusammenhängende Tage für meine Segelpraxis nutzen könnte. Ich hatte wieder Monsieur Bernard als Partner im Auge, musste aber bei telefonischer Anfrage in Berlin von seiner Mutter erfahren, dass der Bursche leider einsitzt. Er war bei seinem Militariahandel mit der staatlichen Außenhandelsorganisation KoKo des Schalck-Golodkowski in Konkurrenz geraten, hatte westdeutschen Interessenten gegen DM seine Erwerbungen verkauft, und das brachte ihm zwei Jahre Knast ein. Allein wollte ich den Prachtjob in Thiessow aber nicht übernehmen, ich gönnte mir daher einen Segelsommer gänzlich ohne Arbeit. Der Sommer 1983 wurde deshalb für mich auch zu einer perfekten