Der Reis und das Blut. Harry Thürk
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Bei den Befreiungskräften Kambodschas verursachte dieser Schachzug der Franzosen eine nicht zu unterschätzende Krise. Nicht wenige Kämpfer sahen das Ziel, die nationale Befreiung, als erreicht an. Sie legten die Waffen nieder und arrangierten sich, während andere dem »neuen Frieden« nicht recht trauten und im Untergrund blieben.
Die unmittelbar auf den Sieg der vietnamesischen Befreiungsarmee bei Dien Bien Phu, 1954, folgende Zeit sah Kambodscha in einem eigenartigen Schwebezustand. Auf der Genfer Konferenz, die den Krieg in Indochina offiziell beendete, wurde Kambodscha von seinem neuen Staatschef Sihanouk vertreten. Zu Hause wob er fleißig an der Legende, der einzige und wahre Befreier Kambodschas vom Kolonialismus zu sein. Er verfolgte eine geschickte Politik, indem er das feudalistische System, in dem sich zunehmend kapitalistische Elemente breitmachten, unangetastet ließ. Zugleich betrieb er international eine antiimperialistische Neutralitätspolitik; er zeigte sich sogar sozialistischen Staaten gegenüber aufgeschlossen, um Anerkennung und Ausgleich bemüht, was ihm in Indochina hohes Ansehen einbrachte, aber auch die Mißbilligung der Vereinigten Staaten, die Indochina als Einflußgebiet betrachteten und in Sihanouk, der sich ihnen nicht unterordnen wollte, einen Störfaktor sahen.
Politiker verschiedener Staaten nannten das, was Sihanouk tat, einen halsbrecherischen Balanceakt. Wie nahe diese Beurteilung der Wirklichkeit kam, sollte sich bald zeigen. Kambodscha erlebte zunächst eine Phase des Aufblühens einer kapitalistischen Wirtschaft. Allerdings spielte sich der Prozeß fast ausschließlich in der Hauptstadt und in einigen wenigen Provinzhauptstädten und Ballungszentren ab. Dort scheffelte eine hauchdünne Unternehmerschicht unerhörte Profite. Die Masse der Landbevölkerung aber, besonders in den Randgebieten, litt unter einer Verschlechterung der Lebenslage, gemessen etwa am Standard der Stadtbewohner, Wirtschaftsangestellten oder Intellektuellen. Mit der Zeit entwickelte sich ein steiles soziales Gefälle im Lande, das gefährlichen Zündstoff anhäufte. Zudem wünschten die USA, daß Kambodscha sich ihnen öffnete.
Das stand im Zusammenhang mit den irrwitzigen Plänen der US-Befehlshaber in Südvietnam, den Krieg gegen die Befreiungsfront militärisch zu gewinnen. In der Einbeziehung Kambodschas in die US-Pläne und der angestrebten Präsenz amerikanischer Truppen dort sahen die US-Generale die Chance, die Befreiungsfront von ihren logistischen Basen abzuschneiden.
Doch Sihanouk ging weder auf Verlockungen noch auf Drohungen ein, wiederholt hingegen äußerte er Sympathie mit der vietnamesischen Befreiungsfront, und sein Verhältnis zu Hanoi verstand er ausgeglichen zu gestalten. So spitzten sich auf außenpolitischem Gebiet die Widersprüche ebenfalls für ihn zu.
Indessen war aus Paris eine Gruppe junger Kambodschaner heimgekehrt, die 1949 die von Frankreich gezielt angebotene Chance wahrgenommen hatte, dort zu studieren. Der Hintergedanke der Franzosen, sie durch den Aufenthalt im »Mutterland« zu intellektuellen Mitläufern des Kolonialregimes zu machen, denen man dann später Schlüsselstellungen in der Kolonie anvertrauen konnte, ging allerdings nicht auf. Im Gegenteil. Die mit wenig Begeisterung studierenden jungen Leute hatten im Hinterzimmer einer kleinen Wohnung in der Rue du Commerce im XV. Arrondissement von Paris eine extrem nationalistische Bewegung gegründet, die Association des Étudiants Khmer. Sie versammelte Studenten, die sich von Anfang an, im Gegensatz zu den in der Heimat arbeitenden Kommunisten, als die »einzig wahren Linken« empfanden. Sie warfen den zu Hause legal lebenden Kommunisten ebenso wie den Illegalen Feigheit vor, weil diese angeblich nicht energisch genug kämpften, ja, sie sagten ihnen sogar Kollaboration mit dem Prinzen nach. Insgesamt, wenngleich mit geringfügigen Unterschieden, waren sie für den Boykott Sihanouks und eine bewaffnete Revolution, die die sozialen Verhältnisse radikal umgestaltete.
Dafür entwickelten sie in langen abendlichen Zusammenkünften, die nicht selten auch in Kneipen des Quartier Latin abgehalten wurden, eine Ideologie, die sie kommunistisch nannten, die das allerdings nicht war. Vielmehr war sie ein morbides Konglomerat utopischer Ideen, die keine Beziehung zu den tatsächlichen Problemen Kambodschas hatten und die sich schon gar nicht an den Erkenntnissen klassischer marxistischer Philosophie orientierten.
Für diese Revoluzzer, die die französische Geheimpolizei als Spinner abtat und ungestört ließ, waren Industrialisierung und moderne Zivilisation Krankheiten, die den Charakter eines Volkes verdürben. Ihrer Ansicht nach waren alle ihre Landsleute, die zivilisiert lebten, bereits unrettbar verloren. Kambodscha, so meinten sie, könnte sich nur auf der Basis eines Kommunismus erneuern, in dem die gegenwärtig unterprivilegierten Schichten der Bevölkerung auf dem Lande, in den Gebirgen und den entlegenen Waldgebieten zu Machthabern erhoben würden. Die Landwirtschaft sollte der Hauptaspekt aller Wirtschaft sein, dazu kämen lediglich einige traditionelle Handwerke. Das Volk sei in großen, militärisch organisierten Produktionseinheiten zusammenzufassen, die den Bedarf an Nahrungsmitteln deckten. Ihnen sollte auch die »Umerziehung« der von der Zivilisation geschädigten Städter obliegen, wobei für jene aus diesem »neuen Volk«, die sich unterwarfen oder anpaßten, Überlebenschancen bestünden. Der Rest sollte als »unwert« so schnell wie möglich beseitigt werden.
Im Grunde lief das auf eine Rückführung der Gesellschaft in mittelalterliche Dorfgemeinschaften hinaus. Alles, was zu den Errungenschaften der Zivilisation gehörte – und hier war man geradezu lächerlich primitiv in der Auswahl –, sollte vernichtet werden, samt seiner Nutznießer. Dazu zählte – vom Geld über das Post- und Fernmeldesystem, die Läden und Transportmittel, die Zeitungen, Rundfunksender, Schulen, Kindergärten, die medizinischen und wissenschaftlichen Einrichtungen, die Kunst, die Technik, die Auslandsbeziehungen und der internationale Handel – so gut wie alles, was nicht im armseligen Leben der Leute in den zurückgebliebensten Winkeln des Landes vorhanden war. Eine Vorstellung, bei deren Analyse erfahrene Politiker eher an die Wunschträume von Anarchisten erinnert wurden denn an vernünftige politische Absichten.
Außenstehende, die durch Zufall Einblick in dieses Programm der gesellschaftlichen Tollheit bekamen, hielten es für Fieberphantasien; doch bereits damals erkannten einige darin die Handschrift menschenverachtender Eiferer. Trotzdem gab ihnen kaum jemand eine Chance. Das sollte sich als Irrtum erweisen.
Zu den Verfertigern jenes »wahrhaft revolutionären« Konzepts gehörten in unterschiedlichen Zeitabschnitten während der frühen fünfziger Jahre solche Studenten wie Saloth Sar (später sollte er sich Pol Pot nennen), Ieng Sary, Khieu Sampan, Son Sen, Hou Yon und Hu Nim sowie die Schwestern Khieu Ponnary und Khieu Thirit, von denen die erstere Saloth Sar (Pol Pot) ehelichte und die letztere Ieng Sary, dessen engsten Vertrauten.
Keiner dieser rabiaten Gesellschaftsveränderer beendete übrigens in Paris sein Studium. 1953, als absehbar wurde, daß Frankreich Kambodscha formell die Unabhängigkeit gewähren würde, kehrten sie nach Phnom Penh zurück, wo sie teils als Französischlehrer an Privatschulen arbeiteten, teils im politischen Untergrund wirkten. Vor allem Saloth Sar (Pol Pot) engagierte sich nun bei den Kommunisten. Noch wurde die Partei allerdings von marxistischen Internationalisten geführt, und Saloth Sar mußte seine tatsächlichen Absichten verschweigen. Er wartete auf seine Chance, sich in die Parteiführung einzuschleichen und diese dann von innen her sprengen zu können.
Prinz Sihanouk, der inzwischen Staatschef geworden war, machte indessen eine geschickte Politik gegen die Kommunisten, in denen er seine gefährlichsten Widersacher sah. Es fiel ihm leicht, jene von ihnen, die ihre Waffen nicht strecken wollten, als Vaterlandsverräter zu diffamieren. Die anderen versuchte er in die Legalität zu locken, selbstverständlich nicht, um sie als gesellschaftliche Kraft zu tolerieren und an Entscheidungen teilhaben zu lassen, sondern um ihre Aktivitäten besser beobachten und kanalisieren zu können. So gestattete er ihnen auch, an den ersten allgemeinen Wahlen nach der Unabhängigkeit teilzunehmen, im September 1955.