Das Blöken der Wölfe. Joachim Walther

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Das Blöken der Wölfe - Joachim Walther

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      Es wird einmal. Die märchenhafte Eingangsformel, ins Futurum gewendet, sieht die Perspektive Berlins entweder als Modellstadt, in der es einen neuen Frieden zwischen Kultur, Ökonomie und Ökologie geben wird, oder als kommerzielle Kapitale, in der so ziemlich alles kollabiert: Verkehr, sozialer Frieden, natürliche Umwelt.

      Die Vereinigung der beiden Hälften wird nur dann etwas Neues bringen, wenn es gleichberechtigt, ohne Unterwerfung, abgeht, ohne die triumphale Selbstgerechtigkeit der jüngsten Sieger der Geschichte, die denen im Osten empfehlen, ihre Biografien im nationalen Müllcontainer zu entsorgen und sich flugs ein westliches Outfit zuzulegen. Die Chance besteht im Überwinden des dualistischen Entweder-oder zugunsten des pluralistischen Sowohlals-auch.

      Die künftige Kultur Berlins müsste dann den Widerspruch, alternative Ideen, antizipatorische Phantasie und selbst die Gegenkultur nicht mehr als subversiv bemisstrauen, sondern willkommen heißen. Berlin als Heimstatt der Ketzer, Träumer, Fantasten und Experimentatoren. Berlin als Impulsgeber, Forum, Drehscheibe, Schnittpunkt und Fokus östlicher und westlicher Kulturen. Die Kultur als eine Komposition von Zukunftsprojektion und Geschichtsbewusstsein, von Basis- und Hochkultur, von Ernst und Witz, von Produzenten und Destruenten, von kommunalen, freien und kommerziellen Initiativen.

      Notwendig wird Berlin dafür ein Talent zur Unordnung brauchen, was hier auf traditionell preußischem Boden zwar schwerfallen, aber nicht unmöglich sein dürfte. Und es braucht den Mut zur schöpferischen Destruktion, dem ständigen Stirb-und-werde alles Lebendigen. Wandel und Wechsel als das Beständige, die Veränderung als das Stabilisierende – so hätte Berlin kulturelle Zukunft.

      Mit Glanz. Doch ohne Gloria.

      

Zuerst veröffentlicht: Der Morgen, 24. Dezember 1990

       UNZEITGEMÄßE GEDANKEN

      Ein Gespenst geht um in Europa: das Gespenst der Utopielosigkeit. Es folgt dem Brautgang Osteuropas gen Westen auf dem Fuße nach. Die blasse Braut (… nach schwerer Enttäuschung, steht in ihrer noch druckfeuchten Heiratsannonce) eilt ihrem beleibten Bräutigam in die Arme, um sich mit ihm vor den Augen der Welt zu vereinen. Hochzeit ist angesagt in Europa, doch ob es eine Hoch-Zeit werden wird, hängt daran, ob sich die Brautleute eine Perspektive geben, die übers bloße Morgen, über den Vollzug der Kopulation hinausweist, in eine Zukunft hinterm Horizont, der sich im Nähern stets entfernt. Einer Vision wird das vermählte Europa bedürfen, um zu dauern, einer gänzlich neuen, gespeist aus dem reichen gemeinsamen Fundus und den Erfahrungen der Trennungszeit, da die Eheleute der zu tiefen Wasser wegen nicht zueinanderkommen konnten.

      Solch ein Entwurf müsste die westlich proklamierte individuelle Freiheit mit der östlich, ursprünglich intendierten kollektiven Gerechtigkeit verbinden. Beides hat es einzeln wirklich und wahrhaftig nie gegeben. Die kollektive Gerechtigkeit pervertierte im Osten zu repressiver Nivellierung, zu einem administrativen Reglement, das nicht etwa, wie tolldreist behauptet, der Menschheit eine Epoche voraus war, sondern zwei zurückfiel: in die Strukturen des Ancien régime. Und der Okzident, der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit versprach? Sind dessen hehre Werte in der Praxis nicht zu ungerechter Freiheit bunt verflacht, und wird die im Konsum kollektiv verdrängte Ungerechtigkeit nicht unabweisbar evident, weiten wir den eurozentrierten Blick ins Globale?

      Was Ernst Bloch vor 70 Jahren beschrieb, ist heute, leider, noch immer nicht hoffnungslos veraltet.

      „Soweit also musste, konnte es schließlich mit uns kommen. Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing’. Aber dieser Tanz um das Kalb und Kalbsfell zugleich und nichts anderes dahinter war doch überraschend. Das macht, wir haben keinen sozialistischen Gedanken. Sondern wir sind ärmer als die armen Tiere geworden; wem nicht der Bauch, dem ist der Staat sein Gott, alles andere ist zum Spaß und zur Unterhaltung herabgesunken. Wir haben Sehnsucht und kurzes Wissen, aber wenig Tat … In uns allein brennt noch dieses Licht, und der phantastische Zug zu ihm beginnt, der Zug zur Deutung des Wachtraums, zur Handhabung des utopisch prinzipiellen Begriffs. Diesen zu finden, das Rechte zu finden, um dessentwillen es sich ziemt zu leben, organisiert zu sein, Zeit zu haben, dazu gehen wir, hauen wir die metaphysisch konstitutiven Wege, rufen was nicht ist, bauen ins Blaue hinein, bauen uns in Blaue hinein und suchen dort das Wahre, Wirkliche, wo das bloß Tatsächliche verschwindet – incipit vita nova.“

      Das bloß Tatsächliche: Utopie ist offensichtlich nicht ersetzbar durch Bruttosozialprodukt und Wachstumsraten, nicht durch kurz- oder bestenfalls mittelfristige Politikinhalte, nicht durch Diesseits und Jenseits versöhnende Religionen. Gegen die Macht des Tatsächlichen, gegen die Zwänge des Entweder-oder, in denen wir Täter und Opfer zugleich sind, muss ein Kraut wachsen bei Strafe des Untergangs, der ein Suizid wäre: das heilende und kräftigende Wunderkraut der Utopie, des Hoffens, des Tagträumens nach vorn.

      Die Pflanze scheint nur ausgestorben mit dem mondialen Scheitern der missratenen Praxis einer ursprünglich menschenfreundlichen Idee. Und selbst dort lebt sie weiter als utopische Spore, so im marxschen Kernsatz, dass die Freiheit des Einzelnen die Bedingung für die Freiheit aller ist. Sie lebt als Spore in Mythos und Märchen, in den libertinen Sozialutopien wie in der Poesie der Völker, und was 2.000, 3.000 Jahre widrige Wetter überstand, überlebt auch (und ziemlich gelassen) die historisch läppischen 40 Jahre pervertierten Sozialismus. Zwar ist das Bild der Utopie so schwer beschädigt, dass man nicht zu Unrecht meinen könnte, das größte denkbare Übel sei die Realisierung einer Sozialutopie, zwar sind die heroischen Illusionen der Gutgläubigen bitter enttäuscht, der mythische Gehalt pseudowissenschaftlich reduziert von eilfertigen Philosophen, die sich selbst als Ideologieproduzenten bezeichneten, womit sie ihren Salto rückwärts trefflich selbst benannten. Im Kern aber lebt die Spore, verkapselt zwar und ziemlich unansehnlich, doch keimfähig bei klimatisch günstigen Bedingungen. So überlebt die Utopie im Stillen, sie ist vertagt, womöglich gar verjährt, verbannt ins Reich des reinen Wünschens, in die Welt der bloßen Worte, ins Erinnern an das, was kommen soll.

      Wärme braucht’s zum Keimen. Und Feuchtigkeit. Ein multikulturelles Biotop, erwärmt von globaler Solidarität, befeuchtet aus den Quellen des Mythischen wie des Antizipatorischen. Und sehr wahrscheinlich beseelt von einer neuen Naivität, die nicht notwendig infantil sein muss, massenhaft bevölkert von einem Geist, wie ihn Charles Fourier beschreibt.

      „Der menschliche Geist, der fünfundzwanzig Jahrhunderte lang an dieser Aufgabe gescheitert ist, wird vor einem neuen Kampf gewiss zurückschrecken. Doch wenn Heerführer und Soldaten niedergeschlagen sind, bedarf es zuweilen nur eines Kindes, um neue Hoffnungen zu wecken. Der zehnjährige David richtete Israel auf, als er Goliath besiegte. Jeanne d’Arc, ein einfaches Hirtenmädchen, begeisterte die französische Armee und führte sie zum Sieg … Gerade meine Unscheinbarkeit gibt mir das Recht, die Zügel in die Hand zu nehmen, wenn alle Welt sie schleifen lässt, wenn der menschliche Geist nur noch seine Ohnmacht beklagt und mit Voltaire ausruft: Welch tiefe Nacht umgibt noch die Natur!“

      Der Ausgang des Menschen aus dieser selbstverschuldeten Umnachtung als der Beginn eines neuen Age of Enlightenment im geistigen Biotop Europa? Fourier, der Unwissenschaftliche, der Utopist (was die Virtuosen der instrumentellen Vernunft selbstredend synonymisch gleichsetzten), sah diesen Ausgang aus Ohnmacht und Unmündigkeit in der Versöhnung von Nützlichkeit und Vergnügen, in der Synthese von Arbeit und Harmonie und der Kreation sogenannter „sozialer Leidenschaften“. Die Aufhebung der Entfremdung, die befreite Arbeit – eine Utopie, ferner als je. Das Angebot in Ost und West hieß: Freizeit statt Freiheit. Im Westen mehr, im Osten weniger, doch hier wie da zu wenig. Freizeit als Freiheit von Arbeit, als reduzierte Arbeitszeit. Es geht jedoch um die Freiheit der Arbeit selbst.

      Wie auch immer die neue Utopie heißen, aus welchen Quellen sie sich speisen und wo auch immer

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