Der Strick um den Hals. Emile Gaboriau
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Читать онлайн книгу Der Strick um den Hals - Emile Gaboriau страница 13
Nach nochmaligem Zögern begann der Idiot zu erklären, was er gesehen hatte. Es bedurfte wenigstens fünf Minuten langer Anstrengungen, Stöhnens und verzweifelnden Stotterns, bis es Cocoleu gelang, seinen Zuhörern begreiflich zu machen, daß er gesehen habe, wie Herr Boiscoran, den er sehr wohl kannte, ein Journal aus seiner Tasche gezogen, es mit einem Schwefelholz angezündet und es unter einen Strohhaufen gesteckt, der dicht neben zwei mächtigen Holzhaufen lag, welch letztere sich gegen die Mauer eines mit Branntwein gefüllten Gebäudes lehnten.
»Das geht bis zum Wahnsinn!« schrie der Doktor, der hiemit ohne Zweifel die Meinung aller Anwesenden aussprach.
Mittlerweile war es Herrn Galpin-Daveline gelungen, seine Aufregung zu beherrschen.
»Bei der ersten Äußerung der Zustimmung oder Mißbilligung«, sprach er, mit einem boshaften Blick um sich schauend, »rufe ich die Gendarmen und lasse alle hinausweisen. – Da du Herrn Boiscoran so gut gesehen hast«, fuhr er, sich wieder an Cocoleu wendend, in seinem Verhör fort, »wie war er denn gekleidet?«
»Er trug«, sagte der Idiot, immer auf eine fürchterliche Weise seine Worte herausstoßend, »helle Hosen, eine braune Weste und einen großen Strohhut. Seine Hosen steckten in den Stiefeln.«
Zwei oder drei Bauern warfen sich erstaunte Blicke zu, als wären sie endlich doch von einem Verdacht ergriffen. Denn in diesem von Cocoleu beschriebenen Kostüm waren sie gewohnt, Herrn von Boiscoran zu begegnen.
»Und was tat er«, fuhr der Richter fort, »nachdem er das Feuer angesteckt?«
»Er versteckte sich hinter einem Holzhaufen.«
»Und dann?«
»Dann legte er seine Flinte an, und als der Herr heraustrat, schoß er sie auf ihn ab.«
Den Schmerz seiner Wunden vergessend, richtete sich Herr von Claudieuse entrüstet in seinem Bett auf.
»Es ist ungeheuerlich«, rief er, »zuzulassen, daß dieser elende Idiot einen Ehrenmann mit seinen blödsinnigen Anschuldigungen beschimpft. Wenn er gesehen hat, daß Herr von Boiscoran das Feuer ansteckte, um mich zu töten, warum hat er nicht Alarm geschlagen, warum hat er nicht geschrien?«
Zur größten Verwunderung Herrn Sénéchals und Herrn Daubigeons wiederholte Herr Galpin-Daveline bereitwillig die Frage: »Warum hast du nicht um Hilfe gerufen?«
Aber die Anstrengungen, denen er sich seit einer halben Stunde unterworfen, hatten den unglücklichen Burschen erschöpft. Er brach in ein wildes Gelächter aus, und zu gleicher Zeit von einem Anfall seines Leidens ergriffen, fiel er schreiend und um sich schlagend hin. Man mußte ihn hinaustragen.
Der Untersuchungsrichter hatte sich erhoben. Bleich, erregt, mit zusammengezogenen Augenbrauen stand er da und schien das Weitere zu überlegen.
»Was werden Sie nun beginnen?« fragte der Staatsanwalt ihn ins Ohr.
»Verfolgen«, antwortete er mit leiser Stimme.
»Wirklich ...!«
»Was kann ich in meiner Lage anders tun? Gott ist mein Zeuge, daß, als ich in diesen unglücklichen Idioten eindrang, meine einzige Absicht war, die Nichtigkeit seiner Anklage ans Licht zu bringen. Das Ergebnis hat meine Erwartung getäuscht ...«
»Und jetzt?«
»Jetzt darf von keinem Zögern mehr die Rede sein. Zehn Zeugen haben dem Verhör zugehört; meine Ehre steht auf dem Spiel. Ich muß entweder die Unschuld oder – die Schuld des durch Cocoleu Angeklagten an den Tag bringen. – Wollen Sie«, fuhr er fort, indem er auf das Lager des Herrn von Claudieuse zutrat – »mein Herr, wollen Sie mir sogleich, zu dieser Stunde, etwas über Ihre Beziehungen zu Herrn von Boiscoran mitteilen?«
Unwille und Überraschung entflammten die Züge des Grafen. »Ist es möglich, rief er, »daß Sie dem eben Gehörten Glauben schenken?«
»Ich glaube nichts. Herr Graf.«, sprach der Richter. »Meine Aufgabe ist, die Wahrheit zu entdecken; ich suche sie ...«
»Der Doktor hat Ihnen gesagt, wie es mit der geistigen Verfassung Cocoleus steht.«
»Herr Graf, ich bitte Sie, mir zu antworten.«
»Nun wohl«, antwortete Herr von Claudieuse in heftigem und mit einer zornigen Bewegung begleiteten Ton, »meine Beziehungen zu Herrn von Boiscoran sind weder gut noch schlecht; wir haben überhaupt nichts miteinander zu tun.«
»Es heißt, daß Sie sehr schlecht miteinander stehen.«
»Weder gut noch schlecht. Ich verlasse Valpinson fast nie, Herr von Boiscoran lebt fast das ganze Jahr über in Paris. Er ist nie zu mir gekommen; ich habe nie den Fuß über seine Schwelle gesetzt.«
»Man hat Sie in ziemlich ungemessenen Ausdrücken über ihn reden hören.«
»Das ist möglich. Wir haben weder das gleiche Alter noch die gleichen Neigungen, weder dieselbe Meinung noch denselben Glauben. Er ist jung, ich bin alt. Er liebt Paris und die große Welt, ich liebe nur die Einsamkeit und meine Jagd. Ich bin Legitimist, er war Orleanist und ist Demokrat geworden. Ich glaube, daß nur der Nachkomme unseres legitimen Königs das Land retten kann; er ist der Überzeugung, daß die Republik das Heil Frankreichs ist. Aber man kann sich politisch feindlich gegenüberstehen und deshalb fortfahren, sich zu achten. Herr von Boiscoran ist ein Ehrenmann. Er ist einer von denen, die während des Krieges ihre Pflicht tapfer erfüllten. Er hat sich gut geschlagen; er ist verwundet worden.«
Sorgfältig notierte Herr Galpin-Daveline die Antworten des Grafen.
»Es handelt sich nicht allein um politische Meinungsverschiedenheiten«, fuhr er fort, nachdem er seine Aufzeichnungen geendet.
»Sie haben mit Herrn von Boiscoran Zwiste in eigenen Privatinteressen gehabt.«
»Das waren nichtssagende Dinge.«
»Um Vergebung, Sie haben Prozesse miteinander geführt.«
»Unsere Güter stoßen aneinander. Wir sind durch einen unglücklichen Bach getrennt, der ein ewiger Zankapfel zwischen den Grenznachbarn ist.«
Herr Galpin-Daveline schüttelte den Kopf.
»Sie haben keine anderweitigen Mißhelligkeiten gehabt, Herr Graf?« fragte er. »Die ganze Umgegend weiß davon, daß es heftige Wortwechsel zwischen Ihnen gegeben hat.«
Der Graf von Claudieuse schien außer sich.
»Es ist wahr, wir haben einige Worte gewechselt. Herr von Boiscoran hatte zwei verwünschte Dachshunde,