HINTER DEN GESICHTERN. Richard Lorenz
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Kapitel 2
Von einem Atemzug auf den anderen glaubt Lisbeth, dort draußen in der Dunkelheit alle Schreckgespenster sehen zu können, mit gelben Wolfsaugen und gierigen Händen. Hinter den Bäumen ein weiteres Schattengeäst, und Lisbeth gibt unvernünftig viel Gas. Gefährlich schlittert das Auto herum, doch nach einem Augenblick hat sie es wieder unter Kontrolle. Als ihr das Streufahrzeug entgegenkommt, bemerkt sie nicht, dass der Schneefall bereits wieder zunimmt.
Eigentlich hat sie den Ort, an dem sie immer schon lebt, nie sonderlich gemocht. Eine Art größeres Dorf, das in guten Zeiten so etwas wie eine Stadt zu sein vorgibt. Mit seinen Festen, Jahrmärkten und den Kunstausstellungen in der Sparkasse. In Wahrheit aber ist dieser Ort immer nur ein loser Haufen Häuser und Vorgärten geblieben. Mit seinen vom Wind geformten Bäumen und den Geisterorten, an die sich kein Mensch mehr erinnern mag. Mit seiner Mahnung an die dunklen Tage. Und mit seinen Albträumen von den noch finstereren Nächten.
Daran denkt Lisbeth gerade, vielleicht auch, weil die Straßen eher wie Wege sind und scheinbar nirgendwohin führen. Lichterlos die Häuser, nur bei wenigen, weit entfernt, die flackernden Glühbirnen der Hofbeleuchtung. Traumhaft hätte dieser Landstrich sein können, vergessen von den großen Städten ringsherum – eines jener Postkartenidylle einer unendlich langen Sommerfrische.
Lisbeth bremst erneut, schlittert durch eine Schneeverwehung und fährt zögerlich weiter. Langsam, aber sicher bekommt sie Kopfschmerzen, und eine Sekunde lang spielt sie mit dem Gedanken, das Auto ausrollen zu lassen. Um in ihrer Tasche nach einer Ibuprofen zu suchen oder wenigstens nach einer Paracetamol-Tablette. Aber ein starker Windstoß von Osten her, der ihr Auto durchschüttelt, hält sie davon ab. Von hier aus kann sie sowieso schon fast ihr Haus sehen – ein schemenhafter Umriss mit hell erleuchteten Fenstern. Und zu Hause hat sie genügend Medikamente, um eine ganze Krankenstation zu versorgen. Krankenschwestern sind die schlimmsten Patienten, heißt es. Und das stimmt vermutlich sogar. Hinter jeder Hustenattacke ein Atemstillstand lauernd. Die Angst vor dem Versteckten, das sich in einem Überraschungsmoment jäh offenbart, liegt im Beruf begraben. Da gibt es keinen Zweifel, Krankenschwestern können Unheil auf hundert Meter Entfernung riechen. Umso verwunderlicher ist es, dass sie den toten Mann im Schockraum 2 nicht gespürt hat. Denn ein wenig von diesen Ahnungen ist ihr ja geblieben – Ahnungen davon, dass im Krankenhaus zwei Stockwerke über der Ambulanz gleich jemand sterben wird. Winzige Flackerlichtvisionen von Leben und Tod, die allerdings nach über zwanzig Jahren Hospital nicht sonderlich überraschend sind. Es gibt schließlich Krankenschwestern, die können nach zwei Minuten Patientenkontakt eine korrekte Diagnose stellen. Hellsichtig sind sie alle nicht, und jetzt, nach so vielen Jahren, ist sich Lisbeth nicht einmal mehr sicher, ob sie selbst es jemals gewesen ist. Der Fall der Schneeflocken macht ihre Gedanken schwer, und sie muss sich zwingen, die Augen offen zu halten.
Auch darüber hat sie gelesen: dass Kinder, vor allem junge Mädchen, manchmal sehr sensibel auf die Umwelt reagieren, wenn die Eltern oft streiten. Und Herrgott, ihre Eltern hatten eigentlich unentwegt gestritten! Im hinteren Zimmer seit vermutlich hundert Jahren die uralte Großmutter mit den offenen Beinen und den wirren Gedanken im Kopf. In den letzten Jahren vor ihrem Tod schrie sie manchmal nachts, plärrte von den Teufeln unter ihrer Bettdecke.
Vielleicht hatte ja deshalb der rabenschwarze Engel in Lisbeths Kinderkopf getanzt. Um all diese Stimmen verstummen zu lassen. Und vielleicht hatte der rabenschwarze Engel einfach nur alles irgendwo aufgeschnappt, was sie später vorauszusagen glaubte. Überhaupt kann sie sich nur schwer an die Wahrsagungen erinnern.
Außer an jene Novemberregenvision, die so stark gewesen war, dass sie geglaubt hatte, daran sterben zu müssen.
Aber zuvor? Weshalb hatten die Leute eigentlich Angst vor ihr gehabt? Mit sechs, sieben Jahren schien sie dem Rest der Welt entrückt zu sein. Natürlich hatte sie keine Katastrophen vorhergesagt oder schlimme Dinge aus einem offenen Fischbauch herausorakelt. Was genau also war geschehen? Katzen, ja, verloren gegangene Katzen hatte sie damals immer wieder gefunden, ohne sich dabei groß anstrengen zu müssen. Sie hatte einfach gewusst, welche Wege sie gehen musste, um sie wiederzufinden, tot oder lebendig.
Das Lenkrad schlägt nach rechts aus, und Lisbeth erschrickt. Wenn sie etwas hasst, dann Wintertage mit verschneiten Straßen. Vor allem, wenn sie entweder von der Arbeit kommt oder zur Arbeit muss. Der Streufahrer ist ein ortsbekannter Alkoholiker, der im Vollrausch minutengenau Neuschnee vorhersagen kann – dann aber viel zu betrunken ist, um auch wirklich loszufahren. Dass er sich heute überhaupt schon auf den Weg gemacht hat, verwundert Lisbeth. Gleichzeitig lächelt sie zum ersten Mal, seit sie in das Auto gestiegen ist, denn im Laufe ihres Lebens sind ihr tatsächlich viele Leute begegnet, die etwas voraussagen können. In ihren Knochen spürend den späten Herbststurm oder den frühen Wintereinbruch. Hier draußen zwischen Stadt und Land sind Merkwürdigkeiten keine Seltenheit – viele Leute glauben immer noch daran, dass es Unglück bringt, wenn man nach Mitternacht das Haus verlässt, oder dass man Warzen am besten mit einer Mischung aus Beten und Fluchen behandelt.
Es kann gut sein, dass es Großmutter herumerzählt hatte, diese Sache mit dem zweiten Gesicht, und dass es vor allem deshalb die Leute von Lisbeth erwartet hatten. Wie man von besonders talentierten Kindern erwartet, dass sie überall ihre Kunststücke aufführen. Weiß Gott, sie kann sich daran nur sehr schemenhaft erinnern, alles zergliedert von den lauten Schreien ihrer Eltern, dem zerbrochenen Geschirr auf dem Küchenfußboden. Und einer alten Frau, die ständig von Gestalten fantasierte, die aus den Gräbern kamen, um sie allesamt heimzuholen.
Das eine aber wird sie nie vergessen können: die Flammen, die aus den Augenhöhlen schlugen, und die lichterloh brennenden Haare. Jetzt, als sie daran wieder denkt, kann sie das verbrannte Haar sogar riechen, und sie muss das Fenster herunterkurbeln, um den Gestank aus dem Auto und aus ihrem Kopf zu vertreiben. Und mit ihm die dunklen Erinnerungen an eine eigenartige Vergangenheit.
Schon an der Einfahrt zu ihrem Haus kann sie Utrecht sehen, der Schnee schippt. Utrecht, der seit über zehn Jahren im Nachbarhaus wohnt und der seinen Vornamen niemandem verrät, weil er ihn nicht sonderlich mag. Der Autoscheinwerfer erhellt ihn, er hält inne und hebt die Hand. Wie immer raucht Utrecht einen dieser scheußlichen Zigarillos, die man tatsächlich nur im Freien rauchen kann. Ein Kettenraucher, wie er im Buche steht, aber wenigstens mit festen Gewohnheiten: Im Haus raucht er Zigaretten oder Pfeife, im Garten Zigarillos oder, wenn es etwas zu feiern gibt, Zigarren. Manchmal stopft er sich überdies Schnupftabak in die Nase, und Lisbeth wundert sich jeden Tag aufs Neue, dass er überhaupt noch Luft bekommt. Sie lächelt ihm zu, er lächelt zurück, während sie den Motor abstellt und merkt, dass sie ein klein wenig zittert. Wegen der Kälte und der Schlitterfahrt, aber auch wegen des Mannes im Schockraum mit dem Messer zwischen den Herzkammern.
Herzen sind dazu da, sie zu zerschneiden.
Lisbeth erschrickt über die Stimme in ihrem Bauch. Wer hatte das damals gesagt? Oder hatten sie es alle gesagt, als es angefangen hatte mit den Kindern?
»Was für ein Wetter!« Utrecht zieht einen Handschuh aus und wischt sich mit der freien Hand über die Stirn. Auf seinem Kopf eine alberne Pudelmütze mit rotem Bommel, die vom Schnee nass und von der Kälte steifgefroren ist.
»Ja, was für ein Scheißwetter!« Lisbeth lehnt sich an den Wagen und atmet tief durch.
»Auch ein Scheißdienst, was?« Utrecht kramt in den Taschen seines Parkas, fischt eine Zigarettenpackung heraus und gibt sie Lisbeth. Sie zögert, zieht dann aber doch eine heraus. Marlene entdeckt sie nirgendwo, vermutlich