HINTER DEN GESICHTERN. Richard Lorenz

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HINTER DEN GESICHTERN - Richard Lorenz

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style="font-size:15px;">      »Das. Nein, das ist nicht lustig. Tut mir leid, ja?« Marlene beißt sich auf die Lippen, denn natürlich weiß sie von den Geschehnissen der damaligen Zeit. Von der ewig andauernden Vollmondnacht mit einem Mond, der blutrot getränkt an einem viel zu nahen Himmel gestanden war. Marlene weiß nicht alles, nur das, was sie in der Schule darüber gehört hatte. Ein Sammelsurium an Gerüchten und Geschichten, die sicherlich zur Hälfte falsch waren. Still küsst sie ihre Mutter auf den Hals.

      »Überlegst du es dir mit Utrecht? Das wär mal eine Abwechslung. Sonst muss ich mir womöglich wieder Geschichten aus dem Krankenhaus anhören. Und die sind wirklich widerlich.«

      »Na gut, ich überleg es mir, ja?« Lisbeth wischt eine von Marlenes Haarsträhnen aus ihrem Gesicht und fühlt sich furchtbar alt dabei. Wo ist nur die Zeit geblieben, die Tage sind viel zu schnell verstrichen! Jene guten Stunden zumindest, während die schlechten auf ewig bewahrt zu sein scheinen. Tief in ihrem Bauch, unterlegt von den Klängen aus einem alten Radio. Jazzmusik, die in ihren Erinnerungen tatsächlich auch eines ist: der Gesang des Teufels.

      Kapitel 3

      »Irgendwo müssen sie doch sein, verdammt!«

      Lisbeth sucht weiter, während sie von unten Weihnachtslieder aus dem Webradio hören kann. Sicher steht Marlene wieder in der Küche und tanzt, weil sie sich unbeobachtet fühlt, anstatt den Abwasch zu erledigen. Die ganze Nacht über hat es geschneit, und es schneit immer noch. Alle paar Stunden geht Utrecht nach draußen, um die Wege zu räumen. In der Zeitung haben sie geschrieben, dass es einer dieser Jahrhundertwinter werden würde, aber daran glaubt Lisbeth nicht. Jedes Jahr schreiben sie von einem noch nie da gewesenen Wintereinbruch, von arktischen Zuständen, von Stromausfällen. Und dann? Schneeschmelze zu Weihnachten und frühlingshaftes Wetter.

      Lisbeth setzt sich genervt auf eine der alten staubigen Schachteln mit toten Mäusen und vertrockneten Wespen zwischen den Kindheitserinnerungen und besieht sich ihre Hände. Staubig und mit Schmutzschlieren, einen ihrer Nägel hat sie sich an einem losen Brett eingerissen. Sie schließt die Augen und wünscht sich eine Zigarette, um den Staubgeruch zu überdecken, so wie sie sich manchmal eine Zigarette in der Notfallambulanz wünscht, um den Geruch von Urin, Kot und Erbrochenem kaschieren zu können. Obwohl Lisbeth sicher ist, dass ihre Taschen leer sind, kramt sie in ihnen herum, findet aber nur ein Feuerzeug.

      Die Haare. Die Haare haben als Erstes gebrannt. Lichterloh.

      Und dann.

      Dann die Augenbrauen.

      Und dann.

      Dann die Jacken und Hemden und Oberteile, Feuer gefangen durch die Glutfetzen und den brennenden Staub in der Luft.

      Denk an was anderes, Hexe Lisbeth, wie dumm kann man nur sein! Wieder einmal ihre Großmutter, die aus der Grube auf dem Friedhof heraus flüstert, obwohl sie ein Leben lang nie geflüstert hat. Vielleicht weil ihr gerade ein Klumpen feuchter Erde den Mund verschließt.

      »Du bist eine Hexe!« Lisbeth steckt das Feuerzeug wieder in ihre Jeans und fragt sich, weshalb gerade jetzt diese Gedanken wiederkommen. Was vergraben ist, soll auch vergraben bleiben. Tatsächlich hat sie ja ewig nicht mehr daran denken müssen, auch weil sie nicht mehr daran hatte denken wollen. In jedem Menschen stecken schließlich unendlich viele Biografien. Hat sie darüber gelesen oder es einfach irgendwo aufgeschnappt? Vielleicht von Schwester Alma, die an esoterischen Kram glaubt wie andere Leute an Jesus? Die ernsthaft mit ihrem Leitungswasser spricht, um es von allen Schadstoffen zu erlösen und nur ja keinen Bauchspeicheldrüsenkrebs zu bekommen.

      Aber doch stimmt es: In jedem Menschen steckt ein anderer und darin wieder jemand. Mit tausend neuen Gedanken und noch viel mehr Träumen. Kein Quatsch über Wiedergeburt, eher eine philosophische Betrachtungsweise der Fragilität des Lebens. Das Mädchen von damals ist fortgegangen, Lisbeth hat es in einem imaginären Garten vergraben, um es nicht mehr betrachten zu müssen. Und mit ihm die hässlichen Erinnerungen an die Hellsichtigkeit oder besser gesagt: an die vermeintliche Hellsichtigkeit. Dennoch kommen immer wieder Leute zu ihr, verzweifelte Menschen. Vor allem Menschen aus der Umgebung, die sich noch an früher erinnern können, als es geheißen hatte, Lisbeth wäre so etwas wie ein Wunderkind. Jetzt gerade muss sie darüber lachen, so laut, dass sie erschrocken die Hand vor den Mund schiebt, weil sie nicht will, dass Marlene fragt, was denn da oben so amüsant ist.

      Eigentlich ist es nur eine Art Zaubertrick, nicht mehr und nicht weniger. Denn die Leute wollen ja glauben, wollen nichts lieber, als an irgendetwas glauben. Deshalb gehen sie schließlich auch in die Kirche: um an ein Himmelreich zu glauben. So wie manche Krankenschwestern einen Krampfanfall vorhersagen können, aufgrund einer Erkrankung, einer Medikation oder anderer Faktoren, kann Lisbeth halt Schlüssel finden oder entlaufene Tiere. Aber ist das tatsächlich schon Hellsichtigkeit? Oder schlicht eine Aneinanderreihung merkwürdiger Zufälle?

      Hast du nicht auch den verrückten Jungen des Polizisten wiedergefunden? Jene Stimme in ihrem Kopf, ein Echo der Stimmen aller Toten.

      »Haltet endlich den Mund!« Lisbeth steht viel zu schnell auf und stößt sich dabei den Kopf am Dachbalken. Als Kind war sie gern hier oben gewesen, dem Himmel nahe. Viel lieber als unten im Keller, Kartoffeln holen oder eingemachtes Obst. In einem Haus alles vereint: Grabestiefe und Himmelsnähe. Aber sie ist dem entwachsen, nicht nur körperlich – der Dachboden wirkt fremd und viel kleiner als in jeder Erinnerung. Hier oben sind nur mehr die Reste ihres früheren Lebens versammelt, diejenigen Dinge, die ihre Mutter hochgeschleppt hatte, um sie verstauben zu lassen. Und hätte Marlene nicht unbedingt blaue Christbaumkugeln gewollt, wäre Lisbeth gar nicht erst auf die Idee gekommen, hier jetzt fast schon eine Stunde danach zu suchen. Neue Kugeln für einen geraden Baum, hat Marlene gefordert, und Lisbeth hat an die blauen Glaskugeln ihrer Kindheit gedacht. Nicht nur, dass es auf dem Dachboden vor Spinnen und anderem komischen Getier nur so wimmelt, es ist hier oben auch ziemlich kalt. Schneespuren dringen durch die fingerdicken Fugen im Dach und erinnern sie wieder einmal daran, dass sie das Haus unbedingt renovieren muss, bevor es eines Tages einfach über ihnen zusammenbricht.

      »Keine Kugeln. Pech, Madam!« Lisbeth zieht den Reißverschluss ihrer alten Jacke hoch und fragt sich, weshalb sie in aller Welt nicht an Handschuhe gedacht hat. Klamm die Finger, die Zehen sowieso. Sie wird noch ein paar alte Schachteln durchsehen und sich dann auf den Weg nach unten machen, um sich in ihrem Lieblingssessel mit einer Wärmflasche und einer großen Tasse Kaffee dumme Nachmittagsserien im Fernsehen anzusehen. Vielleicht würde sogar irgendwo Columbo laufen, und der Tag wäre wieder gerettet.

      Unten singt Doris Day vom Weihnachtswunder, Marlene singt leise mit, in ihrer wunderbaren Stimme. Lisbeth hört sie gern singen, und so steht sie da, frierend, mit einer großen Atemwolke vor dem Gesicht, und lächelt zufrieden. Nur noch drei Tage bis zum Heiligen Abend, und langsam freut sie sich sogar darauf. In ihrer Kindheit waren die Weihnachtstage meist dunkel gewesen, bemalt von Schreien und Nörgeleien, vom ersten Wanken, wenn Vater wieder einmal zu viel getrunken hatte. Vom späteren Weinen ihrer Mutter, und nicht selten stand schon am nächsten Morgen der Christbaum vor dem Haus, als hätten sie alle genug von den Feiertagen und dem Weihnachtspunsch. Vielleicht wird sie ja doch Utrecht zum Weihnachtsessen einladen, einfach so.

      »Na gut, noch ein Versuch, und dann gehen wir wieder nach unten.« Lisbeth haucht sich in die Hände und reibt sie warm. Vermutlich sind die meerblauen Kugeln ja doch nur eine lose Einbildung, oder Mutter hatte sie längst weggeworfen und mit ihnen jegliche Erinnerung an missglückte Tage.

      Dann aber hebt Lisbeth eine der Schachteln empor und öffnet damit ein Grab, hundert Meter tief. Stickige, faulige Luft steigt empor, als würde ein Dutzend Münder ihr einen Abschiedshauch entgegenatmen.

      Zwischen

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