HINTER DEN GESICHTERN. Richard Lorenz
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Jetzt ist er tot. Das hatte sich Cordes damals gedacht und sich die allerschlimmsten Bilder ausgemalt. Sein Junge in einem Straßengraben liegend, mit offenem Brustkorb, die Augen weit aufgerissen. Aber an diesem einen Tag fanden sie keine Leiche. Moritz allerdings konnte er auch nicht finden. Ein Herbsttag mit ganz viel Regen und den ersten starken Stürmen des Jahres. Dabei war Moritz immer nach Hause gekommen, egal, was auch passiert sein mochte. Immerzu den gleichen Weg nehmend, die Schritte abzählend. Nur an den Wochenenden traf er sich auf dem Spielplatz mit einigen anderen Kindern der Stadt, aber selbst dann war er immer weit vor Anbruch der Dämmerung daheim.
»Lisbeth Broussard. Lisbeth«, flüstert Cordes und sieht sich ihr Bild an.
Nach sieben Stunden Suche, Warten und Bangen war er schließlich zu dem Mädchen gegangen, sie um Rat zu fragen. Seine letzte große Hoffnung. Auch weil er gehört hatte, dass sich auf dem Marktplatz ein Mob versammelt hatte, um den Jungen zu finden. Jedoch nicht, um ihn nach Hause zu bringen, das ganz sicher nicht. Für jene Männer war das Verschwinden von Moritz Beweis genug, dass der Junge in die ganze Sache verwickelt sein musste. Cordes war zu dem Haus gefahren, in dem Lisbeth wohnte und immer noch wohnt. Er kann sich noch ziemlich gut an den Geruch erinnern und an Lisbeths Großmutter, die aus irgendeinem Zimmer laut nach dem Herrgott gerufen hatte. Lisbeth war mit ihm ein Stück die Straße runtergegangen, in langsamen kleinen Schritten, als würde sie seine Fährte aufnehmen wollen. Verschlossen die Augen, ihre Hände zitternd und das Gesicht so weiß wie ein silberner Mond. Pechschwarz, ja, pechschwarz waren ihre Haare gewesen.
»Er hat Angst, das ist alles«, hat Lisbeth geflüstert und dann sind sie gemeinsam über Seitenstraßen und verwinkelte Wege, die Cordes unbekannt waren, zu den neu angelegten Abwasserrohren gegangen, vor denen sich Moritz ziemlich gefürchtet hatte. Sie sehen aus wie große böse Münder, die einen verschlucken wollen. Irgendwann einmal hatte Moritz das gesagt, und deshalb hielt er das Mädchen auch für eine Lügnerin. Für eine, die andere Leute anschwindelt, vielleicht, um damit Geld zu verdienen. Niemals hätte sich Moritz ausgerechnet an diesem Ort versteckt.
Aber dann.
Dann haben sie die unbebaute Gegend mit dem Abwassergestank abgesucht, und sie hat nach ihm gerufen, wie man nach einer vermissten Katze ruft. Noch heute wacht Cordes manchmal auf und hört seine Stimme, so leise, dass man meinen könnte, sie überhaupt nicht gehört zu haben. Aber er ist dort gewesen, ganz weit hinten in einem der Rohre, zusammengekauert, um sein Leben fürchtend, überall Unheil sehend.
Ja, daran wird sich Josef Cordes ein Leben lang erinnern. Und auch an seinen ersten Gedanken, nachdem sie Moritz gefunden hatten: Hätte sie etwas mit den Morden zu tun, weshalb in aller Welt sollte sie ihm dann dabei helfen, seinen Jungen zu finden?
Im Büro läutet das Telefon. Und der Schnee fällt immer noch vom Himmel.
Kapitel 5
Der Schnee fällt auch am Heiligen Abend vom Himmel. Kein wildes Treiben mehr, eher ein sanftes Bedecken aller Geheimnisse, um sie stumm werden zu lassen. Überraschenderweise hat weder eine völlig entnervte Kollegin noch die Stationsleitung angerufen, um sie nach einem Zusatzdienst zu fragen. Scheinbar ist die klassische Krankheitswelle um Weihnachten tatsächlich ausgeblieben. Lisbeth hat sogar mehrmals den Telefonhörer angehoben, aber die Leitung war völlig in Ordnung. Wann hat sie zum letzten Mal die ganzen Feiertage freigehabt? Vielleicht vor sechs, sieben Jahren, aber ganz sicher ist sie da nicht. Überhaupt zerteilt der unsägliche Schichtdienst das ganze Leben in merkwürdige Fragmente, die vor einem davonstieben, sobald man nur an sie denkt.
»Was ist in dem großen Paket? Sag schon.« Marlene tanzt um den Weihnachtsbaum herum.
Unglaublich, wie erwachsen sie geworden ist, denkt sich Lisbeth und fühlt sich gleichzeitig furchtbar alt. Nur noch ein paar kostbare Jahre, und dann wird sie davonfliegen, um alles zurückzulassen. Ihr Zimmer wird leer und verlassen sein, das Haus still und sterbend. Davor hat Lisbeth Angst. Denn Marlene ist immer ihr Anker gewesen in stürmischen Zeiten. Bereits wenige Stunden nach ihrer Geburt war sie es gewesen, die Lisbeth ins Leben zurückgeholt hatte. Weg von den dunklen Erinnerungen, die trotz einer Gesprächstherapie immer wieder in ihr gebrannt hatten wie ein ewiges Licht in tiefer Nacht. Nach den Diensten in der Ambulanz hatte sich Lisbeth nur an das Bett stellen und dieses wunderbare Kind anschauen brauchen, um wieder geheilt zu sein.
»Jetzt sag schon!« Marlene nimmt eine der knallroten Kugeln und hängt sie von einem Zweig auf den anderen.
»Sei nicht so neugierig.« Lisbeth lächelt und betrachtet den Weihnachtsbaum. Seit ihrer eigenen Kindheit hat sie nie mehr so viel Lametta gesehen. Sieben Fotos hat Marlene bereits auf Instagram hochgeladen, und ihre Freundinnen posten schon den ganzen Abend neidvolle Kommentare. Scheinbar ist nur Lisbeth allein auf die Retrosache hereingefallen, bei den anderen hängt nicht mal ein einziger silbriger Faden am Baum.
»Du hast mich reingelegt.«
»Ach, nur ein bisschen.« Marlene schlittert in ihren dicken Wollsocken zu Lisbeth und küsst sie auf die Wange. Aus dem Radio Kirchengeläut und der Singsang eines Priesters, vermengt mit dem statischen Rauschen der Winternacht.
Lisbeth ist schon gespannt, wie Marlene auf den Plattenspieler reagieren wird, der in dem großen Weihnachtspaket auf sie wartet. Zwar haben sie einen, doch schon immer hatten sie sich gemeinsam ein Jazz-Zimmer einrichten wollen. Vielleicht würden sie schon morgen damit anfangen, den Krempel aus einem der oberen Räume zu holen. Altes Zeug, das meiste noch von Lisbeths Eltern. Sie würden die Wände blau wie Meerwasser streichen und vielleicht auch die Zimmerdecke. In zwei anderen Paketen Vinylscheiben aus Chicago, die Lisbeth auf eBay für sündhaft viel Geld ersteigert hat. Eine davon sogar signiert von Miles Davis.
Wann genau Marlene angefangen hatte, sich für diese Musik zu interessieren, kann Lisbeth gar nicht mehr so genau sagen. Irgendwann im Kindergartenalter, das sicherlich. Sie war vom Frühdienst nach Hause gekommen und hat Marlene vor dem alten Transistorradio sitzend gefunden, während Utrecht in der Küche Kreuzworträtsel gelöst hatte. Utrecht war immer zur Stelle gewesen, wenn Lisbeth einen Babysitter gebraucht hatte.
Mit angehaltenem Atem versucht Lisbeth, sich daran zu erinnern. Marlene hatte ihr Ohr ganz fest auf den Lautsprecher gedrückt, auch weil der Empfang so schlecht gewesen war. Irgendein Sender aus Amerika, mehr Rauschen als Geräusche, aber in diesem unheimlichen Knistern ein Saxofon und eine Trompete, ein wildes Schlagzeug noch dazu. Lisbeths Vater in ihrem Bauch murmelnd: Das ist nichts als Teufelsmusik, stell sie ab, sonst kommen die Toten aus den Gräbern und holen dich!
Aber nichts davon war geschehen. Stattdessen hatte sich Lisbeth neben Marlene gesetzt und sie gewiegt zu den schrägen Klängen einer Jazznummer von Leuten, die längst tot waren; Geistermusik.
Danach hatte Lisbeth sämtliche Jazzalben aus den versteckten Ritzen ihrer Vergangenheit geholt. Charlie Parker, John Coltrane und Chet Baker. Der Soundtrack ihrer verschrobenen Kindheit, die dunkel und hell zugleich gewesen war. Ohne zu wissen, wonach sie gesucht hatte, war Lisbeth während ihrer Ausbildung zur Krankenschwester durch Plattenläden gestreift. Immerzu auf der Suche nach den Klängen von damals, von der Veranda des Nachbarn, der still in einem Lehnstuhl gesessen und Jazzfunken zum Himmel hinaufgejagt hatte. Aber nie hatte sie diesen merkwürdigen Klang gefunden, nicht einmal bei den verrücktesten Free-Jazz-Aufnahmen, die es als Bootlegs zu kaufen gab. Ziemlich nahe kamen dem Klang der schrecklichen Nächte die Herzschläge von Moondog. In ihnen meinte sie die Schreie ihres betrunkenen Vaters und die Schritte des