HINTER DEN GESICHTERN. Richard Lorenz

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу HINTER DEN GESICHTERN - Richard Lorenz страница 11

Автор:
Серия:
Издательство:
HINTER DEN GESICHTERN - Richard Lorenz

Скачать книгу

und das weiß Lisbeth noch ziemlich gut, hatte bei Marlene nicht funktioniert. Schon nach den ersten Takten hatte sie das Interesse daran verloren. Ganz anders bei Charlie Parker, den sie auf Anhieb mochte und sofort zu tanzen begann. Jene Art Tanz, von dem Lisbeth träumt, wenn sie nicht schlafen kann – ein Tanz um das Leben herum, herausschälend, was man wirklich ist und was man nur zu sein glaubt.

      Seltsam. Als wären die Töne von damals tief in Lisbeths Bauch versteckt geblieben, um sie dann mit Marlene abermals zum Klingen zu bringen. Darüber, wie das sein kann, hat sie viel nachgedacht.

      So etwas wie eine stille Übereinkunft waren die Stunden, in denen sie zusammen vor dem Plattenspieler im Wohnzimmer saßen und sämtliche Jazzalben durchhörten. Eine Art Verbindung, die sich niemand so recht erklären konnte und es vielleicht auch gar nicht wollte. Keine Handarbeiten oder Basteleien, sondern als Mutter-Tochter-Sache nur die Schmerzensschreie von Charlie Parker und das Vermächtnis von Moondog, ihre gemeinsamen Herzschläge, gefangen tief in staubigen Vinylritzen.

      »Machst du auf, ja?«

      Wann genau hat sie zum letzten Mal Besuch gehabt, noch dazu Männerbesuch? Lisbeth denkt nach, aber ihr fallen nur die Leute ein, die zu ihr kommen, wenn sie etwas nicht mehr finden. Wie die alte Frau Sauer, die mindestens einmal im Monat ihren Regenschirm verlegt, ob es nun regnet oder nicht, und mindestens einmal im halben Jahr ihre Schlüssel.

      Utrecht klopft sich die Schuhe ab, ein vertrautes Geräusch. Seitdem Marlene keinen Aufpasser mehr braucht, war er nicht mehr hier gewesen. Zu keinem Geburtstag, keinem Feiertag und schon gar nicht zu Weihnachten. Lisbeth kommt sich dumm vor, und aus lauter Verlegenheit weiß sie im ersten Moment gar nicht, ob sie ihm die Hand schütteln oder ihn umarmen soll. Manchmal strömt das Leben an einem vorbei, ohne dass man es zu fassen bekommt.

      »Lange her!«, sagt Lisbeth schließlich und umarmt Utrecht kurz.

      »Haben uns doch erst heute Morgen gesehen, draußen. Schon vergessen? Lisbeth, Lisbeth!«

      »Du weißt genau, was ich meine.« Sie lächelt, Utrecht lächelt mit.

      »Natürlich. Wir sind alle beschäftigt, das Leben ist einfach zu kurz, so ist es doch.«

      Doch – sie mag Utrecht. Mehr, als sie zugeben würde. Er hat etwas Geheimnisvolles an sich, tief verborgen in seinem Herzen. Eine gewisse Traurigkeit. Vielleicht wird sie ihn eines Tages danach fragen.

      »Setz dich. Es gibt Ente. Du magst doch Ente, oder?« Lisbeth schenkt ihm ein Glas Rotwein ein und merkt, dass sie dabei zittert. Es sind seine Augen, die sie zittern lassen. In ihnen jene Melancholie gespiegelt, die sie auf eine unerklärliche Art und Weise anziehend findet.

      »Ente ist klasse, natürlich. Weiß gar nicht mehr, wann ich zum letzten Mal bekocht wurde. Ist schon lange her. Zu lange.«

      Lisbeth riecht sein Aftershave und den dezenten Geruch einer frisch gerauchten Zigarette, während aus dem Küchenradio ein Chor Weihnachtslieder singt und von der Kirche her Menschen zu hören sind, auf dem Weg nach Hause. Mit frierenden Kindern an den Händen, über sie gezogen eine sternenklare Nacht.

      Eine Wärme durchströmt Lisbeths Haus, das lange Zeit nicht zu wärmen gewesen war. Die scheinbar ständige Kühle, die sommers wie winters die Flure mit unsichtbarem Raureif bedeckte. Kurz nach dem Tod ihrer Mutter war das so gewesen und auch noch eine ganze Zeit darüber hinaus, als Lisbeth noch nicht volljährig gewesen war und während der Ausbildung in einem Schwesternwohnheim gelebt hatte. Vernagelt die Türen und Fenster, alles stillgelegt und die Mäuse schlafend, als sie zurückgekehrt war und fror an einem hitzegeplagten Sommertag.

      Das ist alles sehr lange her, und manchmal, wenn Lisbeth gerade aufwacht und im Bett liegend zur Zimmerdecke starrt, glaubt sie, dass alles vielleicht gar nicht so geschehen ist, sondern ganz anders. Daran erinnern kann sie sich nicht, nur an die Musik von der Veranda des Nachbarn. Und an die Sternschnuppen, die den Nachthimmel zergliedert hatten.

      Tatsächlich? War das so gewesen? Hatten Sternschnuppen den Himmel zergliedert? Oder bildest du dir das nur ein? Warum auch denkst du gerade jetzt daran? Lisbeth, Lisbeth!

      Lisbeth kneift ihre Augen fest zusammen, so fest, dass es wehtut und sie Flackerlicht in dieser milchigen Schwärze erkennen kann.

      »Mama? Was ist los?«

      Mama, was ist los mit mir? Worte, die in ihrem Mund stecken und doch nicht rauswollen. Jeder Buchstabe vermengt sich mit dem Weihnachtsessen, will wieder ausgebrochen werden, und doch schluckt sie den galligen Klumpen hinunter. Hält sich mit weiß gewordenen Knöcheln an der Tischkante fest und wackelt auf dem Stuhl hin und her, als wäre sie auf großer Schiffsreise.

      »Nichts, nichts. Alles gut, mein Schatz«, flüstert sie, meint es aber nicht. Es ist diese unglaubliche Wärme, die ihr in den Knochen steckt, und würde sie gerade ihre Beine spüren, würde sie am liebsten nach draußen laufen, um sich in den Schnee zu legen.

      Um nicht zu verbrennen.

      Nein, keine Sternschnuppen. Natürlich keine Sternschnuppen. Wie dumm kann man nur sein!

      Großmutter, die auf dem Fensterbrett sitzt und die Welt anschaut mit ihren verrückten Augen. Die in Lisbeth hineinschaut. Keine Sternschnuppen, es ist ja auch helllichter Tag. Es sind funkelnde Sonnenstrahlen, die durch das Haus blinzeln. Und in diesen Sonnenstrahlen tanzen müde Motten ihren Abschiedswalzer.

      Der Nachbar ist weggezogen, und sie neugierig gewesen. Böses, böses Mädchen! Und böse Mädchen bekommen böse Träume.

      Lisbeth öffnet die Augen und versucht tapfer zu lächeln. Marlene sieht sie ängstlich an, und Utrecht hat seine Hand auf die ihre gelegt, um sie zu beruhigen.

      »Zu wenig Schlaf. Das ist alles«, flüstert Lisbeth, obwohl sie so ausgeschlafen ist wie schon lange nicht mehr. Natürlich weiß das Marlene, dennoch nickt sie. Viel zu schnell zieht Lisbeth ihre Hand unter Utrechts weg, ohne ihn dabei anzusehen. Er schweigt.

      Utrecht wohnt jetzt in diesem Haus, in dem damals der stumme Nachbar einen Sommer lang auf der Veranda gesessen war. Jazzmusik aus dem tragbaren Radiogerät mit der ungemein langen Antenne, die in der Erinnerung wie ein Giftstachel aussieht.

      »Ich. Ich mach mich rasch frisch, ja? Bin gleich wieder da.« Lisbeth wankt ins Badezimmer, und für einen Moment glaubt sie sich tatsächlich übergeben zu müssen. Alles Vergangene mit einem Schwall aus dem Bauch zu erbrechen, um es dann betrachten zu können. Doch die Übelkeit verschwindet mit dem kalten Wasser, das sie sich über die Hände laufen lässt, und auch die Hitze geht fort. Erschrocken schaut sich Lisbeth im Spiegel an und weiß nicht so recht, was geschehen ist.

      Können Tote einfach so andere Leichen ausgraben? Nur, weil in ihnen ein Messer steckt, die Klinge verschluckt vom Fleisch und vom Blut?

      Sei nicht albern, Lisbeth.

      Und dennoch ist es so. Seitdem der Rettungswagen den Mann ausgespuckt hatte, sind die Friedhöfe der Vergangenheit wieder hell erleuchtet. Friedhöfe, die Lisbeth längst schon vergessen haben wollte. Gräber, von denen sie weiß, dass es sie gibt. Auch jene der Kinder, die bei dem Brand ums Leben gekommen sind.

      Drei Kinder. Zwei Mädchen, ein Junge.

      Lichterloh brennend die Haare. Feuerzungen aus ihren Augenhöhlen und der Geruch von verbranntem Fleisch.

      Reiß dich zusammen! Sie schiebt ihren schwarzen Rock hoch und zwickt sich selbst

Скачать книгу