HINTER DEN GESICHTERN. Richard Lorenz
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Seufzend steht Cordes auf und bemerkt die bleierne Müdigkeit, die ihn durchströmt. Eigentlich hätte er jetzt nach oben gehen können, wo er seine Wohnung hat, um sich einen Kaffee zu machen. Oder um sich vielleicht sogar eine Stunde schlafen zu legen. Stattdessen aber geht er nach vorn und schließt die Türe ab. Wie befürchtet hat das Schneetreiben noch einmal zugenommen, und vermutlich wird spätestens in einer Stunde das Telefon läuten. Blechschaden oder jemand, der in den Graben gerutscht ist, weil er die glatten Straßen unterschätzt hat. Auch Moritz wird sicherlich bald nach Hause kommen. Dann werden sie nach oben gehen und sich zusammen vor den Fernseher setzen, etwas essen und nach den Gespenstern suchen, von denen sein Junge erzählen wird.
Bis dahin aber hat er noch ein wenig Zeit, und er geht zurück zu dem großen Aktenschrank auf der Längsseite des Raumes, in dem kaum Ordner stehen. Er schiebt ihn ein wenig nach vorn, weit genug, um dahinter schlüpfen zu können, und nimmt sich wieder einmal vor, spätestens kommendes Jahr ein paar Kilos abzuspecken. Die Tür hat er tatsächlich erst vor zehn, elf Jahren entdeckt, als der Postladen nebenan geschlossen wurde. Den Schlüssel dafür zu besorgen ist nicht sonderlich schwer gewesen. Ein halbes Jahr hat er gewartet, aber für den Laden hat sich niemand mehr interessiert, ebenso wenig wie für die Metzgerei auf der anderen Seite. Heutzutage kaufen alle Leute im Internet ein, und Postkarten verschickt sowieso kein Mensch mehr. Außerdem muss man nur eine halbe Stunde fahren, um zum nächsten Supermarkt zu kommen. Und dort gibt es alles, einen Postschalter und eine Metzgerei auch.
Zuvor hat Cordes die ganzen Unterlagen oben in der Wohnung gesammelt, aber wohl ist ihm dabei nie gewesen. Moritz ist nicht sehr neugierig, er ist allerdings auch niemand, der ein Geheimnis sehr lange für sich behalten kann.
Vorsichtshalber schaut er noch einmal zur Tür, aber die Straße vor dem Polizeibüro ist verlassen und schneeverweht. Mit einem entschlossenen Schritt betritt er den anderen Raum.
Das ehemalige winzige Schaufenster hat er mit Zeitungen zugeklebt, der Strom wurde lange schon abgestellt. Deshalb herrscht in diesem Zimmer, das deutlich kleiner ist als sein Büro, immer ein seltsames Zwielicht. Fast schon ein Taumellicht, das ihn an seine Kindheit erinnert – an den versteckten niedrigen Raum hinter dem Schlafzimmer seiner Eltern, einem magischen Versteck gleich. Dort hatten er und sein Bruder Valentin über Jahre hinweg einen Ort gefunden, an dem man ungestört Pläne aushecken, Comics lesen und sogar die ersten Zigaretten rauchen konnte. Ihre Eltern hatten den Raum scheinbar völlig vergessen, so wie jetzt Valentin ihn vergessen hatte. Wie lange hat er nicht mehr von ihm gehört? Zwanzig, fünfundzwanzig Jahre? Ein Wort gab damals das andere, und ein falsches konnte alles ins Wanken bringen. Cordes streift sich über den Mund, er weiß ja nicht einmal, ob Valentin noch am Leben ist.
Leise rückt er den Stuhl von der Wand und setzt sich in die Mitte des Raums. Sie haben alles mitgenommen, die Theke und den Verkaufsschalter, auch den Lottostand mit den tausend Formularen. An der hinteren Wand klebt ein Plakat, auf dem steht: Schreiben Sie mal wieder! Jemand wird sich freuen.
Auf dem schimmelig gewordenen Linoleumboden stehen an den Wänden ringsherum prall gefüllte Aktenordner wie Dominosteine. Da und dort Papierstapel, und unter dem Plakat hängen einige Tatortfotografien. Keine offiziellen Bilder, sondern schlechte Polaroidaufnahmen, die er selbst heimlich gemacht hatte. Weil sie ihn ja nur für den trotteligen Dorfpolizisten gehalten hatten, der bestenfalls gut genug war, um alles abzusperren. Obwohl die Schmerztablette anfängt zu wirken, greift Cordes zu dem Beutel Marihuana zwischen zwei Aktenbergen. Später würde er das schmale Oberlichtfenster zur Straße hin öffnen müssen, aber erst, wenn er sicher sein konnte, dass niemand es bemerken würde.
Langsam dreht er sich einen Joint, während er wieder einmal versucht, alles zu verstehen. Jedes einzelne Detail, jedes Fragment, jede lose Spur, und er merkt, dass er friert. Die Heizung funktioniert hier auch nicht mehr, alles, was ihn wärmt, ist der laue Luftzug aus seinem Büro. Wieder einmal hat er vergessen, seine Jacke anzuziehen. Zittrig zündet er sich den krumm gewordenen Joint an, inhaliert tief und fragt sich, ob Ungeheuer für immer und ewig verschwinden können. Oder ob sie nur schlafen, tief unter der Erde, tief in jedem Menschen versteckt.
Neun Kinder waren damals ums Leben gekommen. Ihnen allen wurde zunächst der Hals durchschnitten. Mit einem kräftigen Schnitt von links nach rechts, tief genug, um die Luftröhre zu eröffnen.
Und dann.
Cordes atmet tief ein und aus, das Oxycodon wirkt, und das Marihuana macht seinen Herzschlag langsam. Er muss aufpassen, dass er nicht vom Stuhl fällt.
Dann ein Stich in den Brustkorb und ein Schnitt, weit genug um das Herz herum. Vielleicht, um es sich erst einmal anzusehen.
In seinem Büro nebenan klackert die Heizung, und er erschrickt, obwohl er das Geräusch schon ein Leben lang kennt.
Neun Kinder. Und hätten sie ihn nicht erwischt, wären es vermutlich noch viel mehr geworden.
Unter den Polaroidfotografien einige Zeitungsberichte, die er schlampig ausgeschnitten hat.
Wieder ein tiefer Zug, die Glut erhellt sein Gesicht, und Aschefetzen tanzen durch die Luft. Es gibt Dinge, die brennen sich unwiderruflich in einen Menschen ein, das weiß Cordes. Als ihnen der Arzt nach der Geburt mitteilte, dass mit Moritz etwas nicht in Ordnung wäre, war das so eine Sache gewesen. Und auch, als damals die Ersten in seinem Büro aufgetaucht waren.
»Dein Krüppel macht doch gern mit Kindern rum, oder?« Nachts waren sie dann gekommen, Kapuzen über die Gesichter gezogen. Mit Mistgabeln und Stöcken in den Händen. Auch heute noch zieht es ihm sämtliche Eingeweide zusammen, wenn er daran denkt. An dieses hilflose Gefühl, an diese Angst und vor allem an Moritz’ Schreie, der gefühlt hatte, dass sie ihn am liebsten umgebracht hätten. Am nächsten Baum aufgehängt oder ihm selbst das Herz aus dem Leib geschnitten. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er seine Waffe benutzt und einige Schüsse in die Dunkelheit abgefeuert.
Dabei war Moritz selbst ja noch ein Kind gewesen. Ein schüchterner Junge, der jeden Morgen mit dem Bus zu einer der Behindertenwerkstätten fuhr und erst abends wiederkam.
»Gerade diese Bescheuerten haben Kraft wie ein Bär, das kommt von der Dummheit!« Auch das hatte Cordes gehört. Selbst heute kann er noch nicht darüber lachen, denn die Dinge kehren wieder zurück. Und das macht ihm Angst. Große Angst sogar.
Cordes steht auf und hört seine Knie knacken. Er geht zur Wand, um wieder einmal die Fotografien zu berühren, als könne er damit die Zeit zurückdrehen. Abseits von den toten Kindern auch eine Aufnahme von Lisbeth, dem Wundermädchen. Von dem alle gesagt hatten, sie würde Dinge sehen, die sonst niemand sieht. Eine Zeit lang hatte er geglaubt, sie hätte etwas mit den Morden zu tun. Irgendwie. Vielleicht auch, weil sie ihm Angst gemacht hatte.
Ebenso wie die Heuschrecken, die damals gekommen waren, die ganzen Polizisten und Kriminalbeamten und die Staatsanwälte und weiß Gott noch wer. Sogar einen Psychologen hatten sie mitgebracht. Daran kann sich Cordes noch gut erinnern. Dass es ihm trotzdem gelungen war, diese Fotos zu machen, überrascht ihn heute. Wobei man allzu viel nicht erkennen kann, das muss er zugeben. Für ihn reicht es jedoch, um das Blut nie ganz trocknen zu lassen.
Jedes einzelne Kind hat er dann in der Leichenhalle besucht, Tage nachdem sie aus München zurückgekommen sind. Von der Autopsie, mit aufgeschnittenen Bäuchen und zugedrückten Augen. Er hat sie besucht und sich bei ihnen entschuldigt. Dafür, dass er nicht besser auf sie alle achtgegeben hatte.
Geholfen hat es nicht. Immer noch trägt Cordes Schuld mit sich herum, denn die meisten Kinder hatte er gekannt. Vom Schulweg oder von der Sonntagsmesse. Von den Tagen, an denen er in der Schule über seinen Beruf gesprochen hatte.
Und dann?