Faust & Helena. Claudia Schmölders

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Faust & Helena - Claudia Schmölders

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er wurde nicht bestraft, alle mussten nur lachen. Mehr als 150 Jahre später deutete Sigmund Freud diese Szene aus »Dichtung und Wahrheit« genussvoll. Er sah darin das Muster der Geschwisterrivalität, fand sogar ähnliche Beispiele bei seinen Patienten und bezog Goethes Reaktion auf die kommende Schwester Katharina Elisabeth, die aber nur wenig länger als ein Jahr leben sollte. Das Thema der Geburt und des frühen Todes, überhaupt die Figur des Kindes hat Goethe bekanntlich nie mehr losgelassen; so wenig wie die Hoffnung auf einen Bruder. Von den sieben Kindern der Mutter Goethe überlebte außer Wolfgang nur die begabte Cornelia, eine Art Bruderersatz; aber auch diese Schwester, selbst melancholisch vor Bruderliebe, starb schon mit 26 bei Geburt ihres zweiten Kindes. Ob Goethe später auf der Suche nach Verwandtschaft, und sei es nur einer platonischen, sehnsuchtsvoll in andere Länder geblickt hat? Ob er womöglich den legendären Dichter Lord Byron aus so einer frühkindlichen Prägung heraus geliebt hat, halb wie einen Bruder, halb wie einen Sohn? Byron wurde um 1800 der berühmteste englische Freund der Griechen, trat aber erst spät in Goethes längst philhellenischen Horizont. Und der wiederum wurde maßgeblich für die deutsche Intelligentsia. Seit und mit Goethe war Griechenland in fast allen deutschen Bildungshäusern das meistgeliebte, und mit des Dichters Hilfe geradezu familiär verehrte alte Volk, von dem man abzustammen wünschte, eben Hellas. »Das Land der Griechen mit der Seele suchend«, wie einst Iphigenie am Strand der heutigen Krim, wurde zur historischen Formel der Philhellenen, wenn auch nicht nur in Deutschland. Seit dem Humanismus, seit Beginn der europäischen Aufklärung standen kultivierte Bürger, Dichter, Künstler, Wissenschaftler, Pfarrer und Priester an einem geistigen Meeresstrand, der räumlich wie zeitlich zur Ausfahrt lockte – dies aber in Deutschland seit 1755 mit einem Fahrtenbuch völlig eigener Art. In diesem Jahr erschien ein Manifest mit dem Titel »Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst«, verfasst von einem unbekannten jungen Kunstforscher namens Johann Joachim Winckelmann. Geboren 1717 in der Hansestadt Stendal, Sohn eines Schusters, hoch begabt, wurde er nach und nach von Lehrern und Priestern entdeckt und gefördert. Die Begegnung mit der griechischen Kultur, vor allem in der großen Bibliothek des Grafen Bünau auf Schloß Nöthnitz, entrückte den Jungen in eine ideale Welt, klimatisch, politisch, ästhetisch, sozial. Auch wenn man es ihm zunächst im kargen Preußen und mit harten Arbeitsbedingungen schwer machte, lernte er unter Entbehrungen Griechisch, befreundete sich mit den alten Autoren und studierte, erotisch bezaubert, die Gestalten der hellenischen Bildhauer in Abgüssen und Bildwerken. Hier herrschte das richtige Leben im falschen, und zwar richtig in jeder Hinsicht. Mit diesem Fazit eröffnete Winckelmann apodiktisch gleich seine erste Schrift. »Der gute Geschmack, welcher sich mehr und mehr durch die Welt ausbreitet, hat sich angefangen zuerst unter dem griechischen Himmel zu bilden. Alle Erfindungen fremder Völker kamen gleichsam nur als der erste Same nach Griechenland, und nahmen eine andere Natur und Gestalt an in dem Lande, welches Minerva, sagt man, vor allen Ländern, wegen der gemäßigten Jahreszeiten, die sie hier angetroffen, den Griechen zur Wohnung angewiesen, als ein Land, welches kluge Köpfe hervorbringen würde.«

      Das Echo auf diesen Aufruf in der gebildeten Welt war enorm. Ein Jahr später konnte Winckelmann in einer zweiten Auflage, alsbald auch mit Übersetzungen ins Französische und Englische, seine Devise für zukünftige Jahrhunderte wuchtig verbreiten: »Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten.« Mit diesem paradoxen Ehrgeiz – wie konnte man durch Nachahmung unnachahmlich werden? – setzte sich Winckelmann unvermittelt von der bisher dominierenden französischen Kunstdeutung ab. Ähnlich wie Luther nach den originalen Quellen der Bibel, suchte er nach den originalen Kulturvätern der Deutschen, und diese sprachen Griechisch. Was aus Frankreich kam, war nicht wirklich griechisch inspiriert, sondern lateinisch, römisch und christlich. Er aber liebte das Heidentum, mindestens in Form von Kunst. Nur widerwillig, dann aber doch von der eigenen Leidenschaft verführt, wurde Winckelmann schließlich katholisch, um in das Mekka der Ästheten und Sammler nach Rom zu kommen. Rom galt noch Goethes Vater als geistiges Zentrum der Deutschen; und nach Rom reiste sein Sohn fluchtartig in einer Lebenskrise. Hier machte Winckelmann erstaunlich Karriere. 1763 ernannte ihn Papst Clemens XIII. zum Aufseher der sogenannten »Altertümer« sowie zum scrittore der Biblioteca Vaticana; und mit dem Zugang zu ältesten Manuskripten und Werken, im Umgang mit Kardinälen und Künstlern, schrieb er nun an seiner großen Kunstgeschichte, endlich angekommen in einer südlichen, wärmeren und hellenisch kultivierten Weltstadt.

      Italien war damals wie heute ein gigantischer Sammelplatz griechischer Kunstwerke, nicht nur auf, sondern auch unter der Erde. Als Fluchtort während der Renaissance, als die Türken 1453 Konstantinopel eroberten und das hellenistische Byzanz unterwarfen, war das Land samt Vatikan zum Hort der antiken Kulturerbschaft geworden. Italien bedeutete Magna Graecia: Großgriechenland; es war der Vorraum aller späteren deutschen Griechenliebhaber, die nicht in das Land selber zu fahren wagten, wie bis zur Wende um 1900 fast alle deutschen Dichter und Denker. Winckelmanns »Geschichte der Kunst des Altertums«, gespeist und gesättigt aus italienischer Anschauung, oft auch aus zweiter Hand, erschien 1764 und war wieder ein Werk mit wuchtig normativem Anspruch: ein Lehrgebäude sollte es sein. Die Idee der Schönheit war definiert, der Horizont festgesetzt, und die Apotheose auf eine Statue des Gottes Apoll eröffnete eine neue Epoche der Kunstbeschreibung. Es war die Prosa eines Liebenden: »Die Statue des Apollo ist das höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Altertums, welche der Zerstörung derselben entgangen sind. Der Künstler derselben hat dieses Werk gänzlich auf das Ideal gebaut, und er hat nur eben so viel von der Materie dazu genommen, als nötig war, seine Absicht auszuführen und sichtbar zu machen. Dieser Apollo übertrifft alle andern Bilder desselben so weit, als der Apollo des Homerus den, welchen die folgenden Dichter malen. Über die Menschheit erhaben ist sein Gewächs, und sein Stand zeugt von der ihn erfüllenden Größe. Ein ewiger Frühling, wie in den glücklichen Elysien, bekleidet die reizende Männlichkeit vollkommener Jahre mit gefälliger Jugend und spielt mit sanften Zärtlichkeiten auf dem stolzen Gebäude seiner Glieder.«

      Das Buch begeisterte Winckelmanns Leser mit Beobachtungsfülle, genauer Darstellung und historischer Kenntnis. Es galt und gilt als die erste Kunstgeschichte Deutschlands, wenn nicht Europas. Ein großer Erfolg wurde es nicht zuletzt, weil Winckelmann das Studium der einzelnen Kunstwerke wichtiger nahm als die biographische Kenntnis der Künstler. Statt die griechische Welt als Ruinenstätte zu betrauern, konnte er jede Statue, selbst jeden Torso, der ihn begeisterte, eindringlich, aber zugleich auch präzise beschreiben. Madame de Staël nannte ihn gar einen Physiognomen, weil Statuen unter seinem Blick zum Leben erwachten; dabei machte sein eigener schrecklicher Tod – er wurde 1768 von einem diebischen Hotelgast in Triest erstochen – ihn vor allem tragisch bekannt.

      Vielleicht wegen dieses Todes blieb in der Folge berühmter noch als der Apollohymnus die eherne Kunstformel für die antike Statuengruppe namens »Laokoon« von 1755. Sie zeigte in meisterhafter Ausführung einen Vater mit zwei Söhnen um ihr Leben ringen, weil zwei Schlangen sie zu ersticken drohten. Laokoon war der Name eines Priesters in Troja, und der Eindruck, den der Künstler erweckte, verriet Todesmut. So also hieß es im Manifest über die »Nachahmung der Alten«: »Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke. So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeigt der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele.«

      Meldete sich hier eine stoische Ästhetik – oder waren diese Sätze dem Priester des Poseidon geschuldet? Denn als Diener des Meergottes war Laokoon durch Vergil bekannt; angeblich hatte er die griechische List erkannt, die hinter dem berühmten Trojanischen Pferd steckte, und die Göttin Athene ließ ihn zur Strafe von zwei Schlangen töten. Wie auch immer, die Allegorese im Namen des Poseidon blieb offenbar Winckelmanns Sternbild. »Der erste Anblick schöner Statuen ist bei dem, welcher Empfindung hat, wie die erste Aussicht auf das offene Meer, worin sich unser Blick verliert« mit diesem Aufatmen eines kunstliebenden Deutschen, der sein Paradies gleichsam an einem Strand findet, bahnte Winckelmann eine europäische Kulturrevolution an, ästhetisch, patriotisch, geopolitisch. Das alte Griechenland bedeutete für ihn eben nicht nur schöne Kunst, sondern glückliches Klima, vorbildlich demokratische Verfassung

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