Faust & Helena. Claudia Schmölders
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Das eigentliche Hindernis einer Staatsgründung aber, stellte sich mehr und mehr heraus, war die griechischerseits oft fehlende, weil niemals verlangte Idee einer wirklich städtischen Gesellschaft mit Willen zur Kooperation oder gar mit Sinn für eine zentrale Verfassung; selbst die gemeinsame Sprache war ja kein wirklich soziales Band. 400 Jahre osmanischer Herrschaft hatten außer der kirchlichen Hierarchie wenig mehr als lokale Chefs, Clans und sogenannte Klephten, also Briganten hinterlassen. Das Unternehmen wirklich vorantreiben konnten damals – wie wohl noch heute – nur die Griechen in der Diaspora, die Auslandsgriechen, zahlenmäßig ohnehin den Einheimischen überlegen, in jedem Fall aber besser gebildet und wohlhabender als die Inländer. Aber selbst diese Anstrengungen wären ohne den aufstürmenden, internationalen intellektuellen Philhellenismus der Epoche vergebens geblieben. Katharina die Große hatte 1768 den ersten Aufruf verfasst und später im Testament sogar ihren Enkel Konstantin zum griechischen König bestimmt; Voltaire hatte eine Ode für sie und ein wütendes Stück gegen die Türken geschrieben. Die große Enzyklopädie von Diderot und d’Alembert widmete seit 1754 zahlreiche Artikel der griechischen Antike, wenn auch vielleicht noch mehr der römischen, die in Gestalt Italiens und mit Rom eine echte translatio imperii hinter sich hatte, was Griechenland natürlich unerreichbar war.
Tatsächlich hatte die Ideengeschichte zu diesem ganzen politischen Aufruhr schon lange zuvor mit Humanisten wie Martin Crusius und Erasmus Fahrt aufgenommen und sich um 1700 beschleunigt in dem bekannten Pariser Streit zwischen den Alten und den Modernen (Querelle des Anciens et des Modernes). Ging es hier meist noch um stilistische Fragen, wie etwa das Stilideal der simplicité, von Winckelmann später mit »edle Einfalt« übersetzt, wurde auf höherer Ebene schon mit andern Waffen gefochten. Alles Denkbare war an der griechischen Antike vorbildlich, und nicht zuletzt die staatliche Verfassung. Der Erzieher des Dauphin höchstpersönlich, François Fénélon, verfasste damals eine Satire, die Ludwig XIV. mit der Entlassung des Autors quittierte. Der Roman »Les aventures de Télemaque« von 1699 wurde zu einem europäischen Bestseller und unverzüglich ins Deutsche übersetzt. »Die seltsamen Begebenheiten des Telemach. Ein Staatsroman« erzählt in einem pseudohistorischen und zugleich utopischen Plot vom Sohn des Odysseus und dessen Lehrer Mentor (hinter dem sich die Göttin Athene verbirgt); die beiden reisen zusammen durch diverse Staaten, die meist durch Schuld ihrer von Schmeichlern und falschen Ratgebern umgebenen Herrscher zugrunde gehen: ein Spiegelbild für das kriegsverstrickte und verarmende Frankreich des ausgehenden 17. Jahrhunderts. Mentor weiß aber Rat, indem er friedlichen Ausgleich mit Nachbarn empfiehlt, Wachstum und Förderung der Landwirtschaft anregt sowie Minderung der Luxusgüter. Ludwig XIV. verbot das Buch sofort nach Erscheinen, aber es kam in anderen französischen Ausgaben auch nach Brüssel und Den Haag und eroberte sich als Mischung zwischen Fürstenspiegel und Bildungsroman sein oft jugendliches europäisches Publikum.
Ähnlich graekophile Geschichten folgten in Deutschland und inspirierten die griechischen Freiheitskämpfer ihrerseits. Goethes »Werther« (1774) fühlte und handelte zwar ganz zeitgenössisch deutsch, konnte aber dennoch von Homer wie von einem Großvater schwärmen; während Christoph Martin Wielands »Geschichte des Agathon« (1767–1777) in einem fiktiven Hellas spielte und tatsächlich 1814 vom Direktor der Smyrna-Schule, Konstantin Kumas, ins Neugriechische übersetzt wurde. Ein Jahr vor der Revolution erschien dann in Frankreich »Die Reise des jungen Anachasis in Griechenland« (1788) des Archäologen Jean-Jacques Barthélemy, begonnen 1757 und 1819 ebenfalls ins Griechische übersetzt. Auch und gerade dieser Bericht hat sich europaweit verbreitet und wurde bis 1893 ununterbrochen aufgelegt. Noch im 20. und 21. Jahrhundert wurde der Plot von Künstlern und Dichtern erwidert, zuletzt 2014 von Marlene Streeruwitz: »Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland«, nun also erstmals von einer Frau geschrieben und von einer Frau handelnd. Im Original ging es dabei um einen sogenannten »edlen Wilden«, einen jungen Skythen, Sohn des berühmten skythischen Philosophen Anacharsis, der durch ganz Hellas reist und rückblickend die Gebräuche, die Regierung, die Kunstwerke, die Sprache, Dichtung und das ganze ihm eigentlich fremde, nun aber gegenwärtige Land schildert, um zeitgenössischen Lesern eine mehrschichtige Kenntnis zu liefern. Es wurde eine Art Sachbuch; eine spätere Ausgabe enthielt sogar noch genaue Karten für Zeitreisende zum 4. Jahrhundert vor Christus. Auch dieses Buch traf mit seinem revolutionären Horizont ins Herz des griechischen Aufstands, denn der wichtigste Anführer, Rigas Velestinlis, lieferte eine neugriechische Übersetzung des vierten Bandes mitsamt persönlichen Anmerkungen. Doch wurde der Autor von der Zensur erfasst, verhaftet und in Bukarest hingerichtet.
In diesen Jahren konnten deutsche Leser also, neben dem immer noch unübertroffenen antiken Pausanias, ganz reale Ortsbeschreibungen des antiken Hellas wie auch des gegenwärtigen Griechenland von Autoren wie Pierre Guys und Richard Chandler lesen; und wenn Goethes Werther von seiner Homerlektüre schwärmt, galt das nicht unbedingt einer originalsprachlichen. Auch den herrlich illustrierten Reisebericht von Gabriel de Choiseul-Gouffier, einem Diplomaten und Althistoriker, konnten die von Winckelmann aufgeweckten Geister schon 1782 studieren, jedenfalls den ersten Band seiner »Voyage pittoresque de la Grèce«, um sich mit den dort beschriebenen Zuständen des gegenwärtigen Landes unter osmanischer Herrschaft zu befreunden, sie mindestens zur Kenntnis zu nehmen, wenn das nicht schon Chandler ein paar Jahre zuvor gelungen war. Choiseul-Gouffier war Botschafter an der Hohen Pforte von 1784 bis 1791; mit der Französischen Revolution, die er erbittert bekämpfte, verlor er den Posten und seine Besitztümer. Er floh nach Russland, wo man ihn zum Direktor der Akademie der Künste und der kaiserlichen Bibliothek ernannte. Katharina die Große schenkte ihm Ländereien in Litauen; 1802 kehrte er nach Frankreich zurück, 1809 erschien der zweite Band, und als der dritte 1822 posthum erschien, war der Freiheitskampf der Griechen schon in vollem Gang.
Im Dezember 1821 nämlich war in Nea Epidauros eine erste griechische Nationalversammlung zusammengetreten; und im selben Jahr exkommunizierte das Patriarchat von Konstantinopel auf Befehl der Hohen Pforte alle Aufständischen. Auf welche Tradition wollten die aufsässigen Griechen sich jetzt berufen? Nicht nur die politische Abspaltung eines Landes aus einem Großreich, auch der Konflikt zwischen einer heidnischen Antikenverehrung und einer über tausendjährigen christlichen Orthodoxie im byzantinischen Reich war unausweichlich. Tatsächlich nahm die Kirche in Konstantinopel ihre Glaubenskinder erst nach Ottos I. Abdankung 1863 wieder zurück; dabei hatte eine 1833 eigens einberufene Synode von Athen ohnehin die griechische Kirche für autokephal erklärt und damit die Freiheitsbewegung gestärkt. Es war eine plausible Maßnahme, denn nur so war die Zustimmung der Landbevölkerung zu erreichen. Allein die Propaganda eines idealistisch gebildeten, womöglich sogar protestantischen Philhellenentums hätte die ungebildeten Einwohner auf dem Lande und in den Bergen niemals wirklich beeinflusst. Eindruck gemacht hätte hier allenfalls das griechische Militär mit seiner Hoffnung auf Wiedergewinnung des alten byzantinischen Reiches mit Konstantinopel am Horizont; man sprach hier von der sogenannten »Megali Idea«, von dem großgriechischen Reich, die das politische Handeln des neuen griechischen Staates dann bis 1922 teils glücklich, teils desaströs tatsächlich bestimmen sollte.
Doch vorerst trugen Klephten und Clans ihre Streitigkeiten trotz fremder Mächte weiter aus wie bisher und wollten sich keiner Zentralgewalt unterwerfen. Nach einer katastrophalen Niederlage in Missolonghi 1826 kam es im Oktober 1827 zur entscheidenden Schlacht im Hafen von Navarino; die europäische Flotte versenkte fast alle Schiffe des ägyptischen Sultans Mehmet, der dem Osmanischen Reich noch einmal zu Hilfe gekommen war. Ein Protokoll hielt die Kapitulation der Türkei fest, und im April wurde schließlich Graf Ioannis Kapodistrias aus Korfu, ein erfahrener Politiker in russischen Diensten, Mitglied von Filiki Eteria und Gründer des Vereins der Philomusen, zum ersten Präsidenten einer ersten Verfassung gewählt. Mit zahlreichen Maßnahmen versuchte er eine Zentralverwaltung gegen die widerspenstigen Provinzherren durchzusetzen, wurde aber 1831 von griechischen Clanchefs ermordet. Gerüchte kursierten, es sei ein englischer Hinterhalt gewesen, um Russland keinen zu großen Einfluss auf das griechische Geschick zu lassen; andere Gerüchte