Frankfurter Einladung 2. Группа авторов

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Frankfurter Einladung 2 - Группа авторов

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wo mit Küssen jeder zugekleistert

      Dort wo die Toilette nicht zu finden ist

      Und wo Du voraus der Zeit um zehn Minuten bist

      Dort wo zuweilen man den Gast auch schichtet

      Und wo man neuerdings noch dichtet

      Dort wo seit 40 Jahren ich geh ein und aus

      Da sag ich heut ganz leis’: Applaus, Applaus

      Tamara Labas

      ferner schnee

      das kind weint

      draußen auf der straße

      vater zerrt

      an seinem arm

      am frühen morgen

      und ich sitze hier

      in der küche

      der kater liegt

      ausgestreckt und schlafend

      und wärmt mein bein

      das weinen des kindes

      ist vorbeigezogen

      die luft riecht nach

      fernem schnee

      Mario Gesiarz

      Der kleine Laden

      D

      er Junge kam in den kleinen Zeitungsladen in der Siedlung »Engelsruhe« in Unterliederbach. Eine ältere Frau stand hinter der Theke. Sie war klein, rundlich, hatte silberne Haare und ein volles Gesicht. Vor ihr auf dem Tresen lagen Zeitungen, Zeitschriften, ein Kasten mit Liebes- bzw. Arztromanen und einige Schreibartikel. Dazwischen befand sich eine kleine blaue Glasplatte für das Geld. Die Frau gab gerade einer Kundin Geld heraus, die eine »Bild«, einen Arztroman, eine Schachtel »Overstolz« und eine Geburtstagskarte mit Umschlag gekauft hatte. Der Arztroman wurde zusammengerollt und bekam einen Gummi drum herum.

      Der Junge, hochgewachsen, mit langen, leicht gewellten Haaren, zotteliger gelber Cordhose und wildledernen Fransenstiefeln, dazu einem weinroten Hemd, wartete, bis die Kundin den Laden verlassen hatte. Danach griff er in seine Schultasche und holte einige Blatt bedruckten Papiers heraus:

      »Du Oma, meinst Du, ich könnte die in die Bild-Zeitung stecken? Wäre wirklich wichtig, dass das viele lesen!«

      Die Großmutter betrachtete die Flugblätter »Schluss mit dem Krieg in Vietnam!« und antwortete:

      »Wart bis morsche, dann leg ich se noi. Heut hab isch schon zu viele von de Zeidunge verkaaft. Morsche frieh sinn’s mehr, da wern merr mehr Fluchblätter los.«

      Die Großmutter und die »Engelsruhe«. Wenn die kleine Frau in ihrem kleinen Laden stand, war sie eine Institution in der Siedlung, deren Name auf eine Anekdote um einen früheren Landwirt Engel zurückging. Die Siedlung entstand größtenteils in den 20er und 30er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, ein Wohnungsbauprogramm unterstützt durch die Stadt, die damals noch Höchst war. Die ganze Familie, der Junge, seine Eltern und die Großeltern wohnten nicht weit entfernt vom Laden in einer Straße mit Reihenhäusern und kleinen Vorgärten, durch einen halbhohen Zaun vom Bürgersteig getrennt. Schon die Mutter des Jungen wurde hier geboren und lebt dort heute noch, allein, denn der Zuschnitt der Häuser lässt Untervermietung nur schlecht zu, die Standards haben sich geändert. Die Häuser haben auch noch Gärten nach hinten. Diese waren früher für den Anbau von Obst, Gemüse und die Haltung von Kleinvieh gedacht.

      Für die Kinder war die Siedlung ein riesiger Abenteuerspielplatz. Auf den Straßen konnte man spielen, so wenig Autos fuhren damals. Zäune und Hecken wurden ignoriert und leicht überwunden. Es war eine bunte Welt aus Bäumen, Gärten, Wiesen und Hütten, gut und oft lautstark bewacht von den Siedlern. Auch zwischen den Mietshäusern konnte man spielen. Dramatische Fußballschlachten spielten sich hier auf den Wiesen zwischen den Wäschestangen ab. Immer die Eintracht gegen die Großen der Welt. Und immer waren zu viele Stangen da, denn zwei hätten ja gereicht als Tore. Nicht immer konnte bis zum Schluss gekickt werden, ging es doch oft recht laut zu. Da wurden die Recken schon mal weggejagt. Aber immer hat unter dem Strich die Eintracht gewonnen.

      Die alten Mietshäuser sind inzwischen größtenteils neueren Bauten gewichen. Die grauen Altbauten mit ihren winzigen Zimmern waren nach damaligen Maßstäben »für kinderreiche Familien« gebaut. Nun sind sie weg. Wenn der Junge heute zu seiner Mutter fährt, geht ihm manchmal durch den Kopf: »Meine Kindheit verschwindet immer mehr«. Doch so sehr es ihm immer wieder einen kleinen Stich versetzt, so sehr empfindet er die neue großzügigere und luftigere Bebauung als Fortschritt und Verbesserung. Dann denkt er manchmal: »Ich seh’ ja auch nicht mehr so aus wie früher!«

      Doch zurück zum kleinen Laden. Der war gerade so groß wie der Stellplatz eines Pkw, was er heute auch ist. In der Mitte, längs, eine Theke, dahinter Regalfächer über die ganze Wand. An der schmalen Stirnseite links acht flache Schubladen mit Karten für alle Lebenssituationen: Trauerkarten, Hochzeitskarten bis hin zur Gnadenhochzeit, Geburtstagskarten mit und ohne Zahlen, Kommunions- und Konfirmationskarten und viele mehr. Rechts waren Fächer mit Schulheften, dazwischen eine extra Regalkonstruktion mit Zigaretten. Dieses Regal war eine Tür. Dahinter befand sich eine kleine Abstellnische für die Klamotten, eine extra Weste für kühle Tage sowie etwas Putzkram wie Besen, Schaufel, Eimer und Lappen. Keine Toilette, kein Waschbecken. Die Wand rechts bestand, unterbrochen von einem Fenster, aus Steckregalen für Groschenromane, Rätselhefte und Comics aller Art für Leserinnen und Leser aller Altersklassen.

      Vor dem Laden war ein kleiner, gepflasterter Platz, auf der einen Seite begrenzt von einem etwa ein Meter hohen Mäuerchen, auf dem sich die Großmutter bei Sonne schon mal niederließ, wenn gerade keine Kundschaft kam. Auf der anderen Seite war ein Gartenzaun, dahinter der Garten der Ladenvermieterin. Von den vielen Verkaufsläden war dieser schon damals der kleinste. Da gab es direkt hinter dem kleinen Mäuerchen einen Edeka-Laden, kleiner als bei heutigen Märkten der Käsestand. In der Nähe des Ladens gab es damals noch zahlreiche andere kleine Geschäfte: einen »Konsum«, ein Schuhgeschäft, zwei Metzger, in einem Hinterhaus ein kleines Farbengeschäft und so manches mehr.

      Die Großmutter verkaufte schon einige Jahre im kleinen Laden. Im kleinen Schaufenster hing eine Leuchtreklame, auf der in gelben Lettern auf dunkelblauem Grund »Neue Presse« stand. Ihr tägliches Geschäft jedoch waren 120 »Bild-Zeitungen«, 40 »Höchster Kreisblatt«, 30 »Nachtausgaben«, 12 »Frankfurter Rundschau« und 2 »FAZ«. Damit sind der Bildungsstand und der politische Horizont der Siedlungsbewohner sicherlich auch schon repräsentativ erfasst und beschrieben.

      Die Siedlung blickte auf eine stolze widerständige Tradition zurück. Die »Engelsruhe« war ein rotes Viertel gewesen. In den kleinen Miets-, Reihen- und Siedlungshäusern wohnten Menschen der Arbeiterklasse, meist beschäftigt in der Hoechst AG, der »Rotfabrik«, wie sie im Volksmund hieß. Der kleine Laden war wie ein kultureller Mittelpunkt. Hier gab es die Neuigkeiten aus der Nachbarschaft kostenlos. Und zu kaufen waren die bunten Blätter voll mit Schauspielern, Königinnen und Fürsten. Auch erhielt man hier politische Informationen, die aber nur am Rand gewünscht waren. Außer bei der Großmutter. Sie war eine Autorität in der Siedlung. Ihre Meinung zählte. Denn erstens verkaufte sie ja all diese Informationen tagtäglich, war also quasi mit dieser Welt der Neuigkeiten irgendwie verbunden. Zweitens konnte man hier ein Schwätzchen halten.

      Großmutter

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