Mutig denken. Aufklärung als offener Prozess. Marie-Luisa Frick

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Mutig denken. Aufklärung als offener Prozess - Marie-Luisa Frick Reclams Universal-Bibliothek

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bald zu großer Mehrheit, in Städten, die die Metropolen des Aufklärungszeitalters aussehen lassen wie Dörfer. Die damals größte Stadt der Vereinigten Staaten von Amerika, Philadelphia, hatte Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr als 50 000 Einwohner. Jeder, der damals gelebt hat, würde durch eine Megacity wie Shanghai oder São Paolo mit ihren über zwanzig bzw. zwölf Millionen Einwohnern irren wie durch eine (Alb-)Traumwelt. Wir haben neue Theorien über die Natur, ihre Elementarteilchen und -kräfte sowie ihre sozial-biologische Evolution und mühen uns gehörig ab, sie alle zusammenzudenken. Und die Datenmengen, die wir jede Stunde produzieren, nicht zuletzt dadurch, dass wir mit ihnen soziale Netzwerkdienste bezahlen, hätte Pioniere der statistikbasierten Staatsverwaltung wie Gottfried Achenwall und Nicolas de Condorcet vermutlich um den Verstand gebracht. Nicht die immer wieder angeführte Scheidelinie zwischen Moderne und Postmoderne trennt uns von den Aufklärer*innen. Das »post« der fortgeschrittenen Moderne ist besser zu verstehen als ein Schwinden der Euphorie, die viele, bei weitem nicht alle, Akteure der Aufklärung angesichts des offenen Horizonts menschlicher Freiheit empfunden haben. Der Mensch der fortgeschrittenen Moderne steht nicht mehr am Ufer eines verlockend weiten Meeres, sondern er ist, um eine Metapher Friedrich Nietzsches zu bemühen, bereits auf hoher See – und bange.4 Es fällt ihm schwer, sich nicht zurückzusehnen nach den scheinbaren Gewissheiten alter Ordnungen, und er erträgt seine Freiheit auch deshalb manchmal so schlecht, weil ihre Uneindeutigkeit und ihre Ambivalenz sich inzwischen zu oft erwiesen hat.

      Dem Wissen und der systematischen Suche danach wohnt, anders als viele im Zeitalter der Aufklärung erhofften, keine inhärente Tendenz zur Weltverbesserung inne, sondern es entscheiden konkrete soziale, politische Rahmungen, in welche Richtung das doppelschneidige Schwert des menschlichen Geistes sich senkt. Auch politisch sind wir heute ›aufgeklärter‹: In der demokratischen Prämisse der Volkssouveränität steckt immer schon der Stachel des ›demokratischen Totalitarismus‹, wie uns spätestens seit den Auswüchsen der Französischen Revolution bewusst sein muss. Von Nation, Nationalstaat zu aggressiven Formen des Nationalismus führt nicht notwendigerweise ein direkter Weg, jedoch eben ein möglicher, den wir angesichts des bis heute vorliegenden Anschauungsmaterials von Ausrottungsgewalt nicht ignorieren können. Und schließlich weiß der Mensch des Atomzeitalters, dass er selbst ›Herr der Apokalypse‹ ist.

      Was immer man meint, das Akteure der Aufklärung uns zu sagen haben – man wird es auswählen und ausdeuten und gerade auch an den Hintergründen fortgeschritten-moderner Bedingungen wie Schattenbilder beweglich halten müssen.

      In den folgenden Abschnitten versuche ich die Bedeutung von Ideen der Aufklärung für gegenwärtige gesellschaftliche Herausforderungen und politische Debatten herauszuschürfen. Dabei werden diese Ideen vorrangig systematisch analysiert, aber auch in konkrete ideengeschichtliche Kontexte eingebettet. Einzelne historische Momente und Akteure werden unter Scheinwerferlicht betrachtet, um Aufklärung zu konkretisieren und zu vermenschlichen. Eine solche Konkretisierung und Vermenschlichung ist wichtig, weil wir über etwas sprechen, das einmal lebendig war – in Schicksalen, Freund- und Feindschaften, in Landschaften und Kulturen – und weil wir Aufklärung nie als erstarrte Abstraktion wirklich befriedigend begreifen, sondern lediglich beschwören können. Eine solche Abstraktion kann man auch nicht ernsthaft, also fundiert und fair, kritisieren. Denn erst dann, wenn wir Akteure der Aufklärung, bekannte wie randständige, als Menschen sehen, die als Kinder ihrer Zeit die Probleme ihrer Zeit mit den Mitteln ihrer Zeit zu lösen versuchten, werden wir vorsichtiger sein, sie mit Maßstäben unserer Zeit zu messen.

      Denn auch wenn sie diesen Maßstäben nicht in allem genügen und wir glauben, heute noch aufgeklärter zu sein, noch fortschrittlicher: Denker*innen der Aufklärung haben uns, so die These dieses Buches, viel zu sagen. In der »Energie ihres Denkens« liegt, wie Ernst Cassirer es formuliert, der bleibende Wert der Aufklärungsphilosophie.5 Wir können diese Energie nutzbar machen und müssen doch jeweils für uns selbst herausfinden, wie und wozu:

       Wenn wir glauben, den Höhepunkt der Aufklärung überschritten zu haben und dunklen Zeiten zugehen, oder auch, wenn wir im Gegenteil davon ausgehen, dass alles immer besser wird.

       Wenn wir fragen, was der Mensch für ein komisches, so widersprüchliches, bewundernswertes und zugleich armseliges Wesen ist, oder wenn wir uns fragen, ob das, was für einen richtig ist, auch für alle anderen gelten soll.

       Wenn wir glauben, dass Gott zu den Menschen spricht, oder wenn wir diesen Glauben für monströs halten.

       Wenn wir streiten, wer das ›wahre‹ Volk ist, und über die Gefahren oder Verdienste von Nationalismus.

       Wenn wir uneins sind über die Zulässigkeit der Anwendung von Gewalt gegen Unterdrückung oder darüber, was ein gerechtes Strafrecht ausmacht.

       Wenn wir Menschenwürde oder Freiheit ausbuchstabieren und Menschenrechte abwägen.

       Wenn wir Grenzen der Toleranz hochziehen und uns fragen, ob sie an der richtigen Stelle stehen.

       Wenn wir die instrumentelle Rolle der Frau für den Mann in patriarchalen Strukturen kritisieren.

       Wenn wir die Integrationsfähigkeit von religiösen Minderheiten innerhalb säkularer Staaten bezweifeln.

       Wenn wir die Dysfunktionalität der UNO beklagen und fragen, ob es jemals überall auf der Welt Frieden geben kann.

      Für solches Nachdenken soll dieses Buch Inspiration liefern.

      II. Selbst denken

      Es ist eindeutig keine Fanpost, die der jüdisch-stämmige Gelehrte Baruch de Spinoza an einem Tag im Jahr 1675, zwei Jahre vor seinem Tod, in Den Haag erhält. Sein ehemaliger Schüler Albert Burgh, inzwischen in Italien zum Katholizismus konvertiert, geht hart mit Spinoza ins Gericht: Dieser sei ein »niedriger Erdenwurm« und verbreite »abscheuliche Ketzerei«. Er solle sich bekehren und seinen »wahnsinnigen Hochmuth« ablegen:6

      Halten Sie sich denn für grösser als Alle, die je im Staat und in der Kirche Gottes sich erhoben haben? Grösser als die Patriarchen, Propheten, Apostel, Märtyrer, Lehrer, Bekenner, Jungfrauen und die unzähligen Heiligen, ja gotteslästerlicher Weise grösser, als selbst unser Herr Jesu Christus?

      Immerhin, es waren nur Worte. Schon in jungen Jahren entkam der Sohn sephardischer Immigranten einem Attentat – man versuchte, ihn beim Spaziergehen zu erdolchen. Doch auch Worte können ein Leben fast zerstören. Das zeigt der Bannspruch (Cherem), den die portugiesisch-jüdische Gemeinde in Amsterdam 1656 über Spinoza verhängte und der es untersagte, Umgang mit ihm zu haben oder ihn gar zu unterstützen. Doch blieb er standhaft. Seinem wütenden Schüler antwortete er schlicht: »Werfen Sie diesen verderblichen Aberglauben weg und erkennen Sie die Vernunft an, die Gott Ihnen gegeben hat […]«.

      Was aber hatte Spinoza getan, um solch Verärgerung, ja: Hass auf sich zu ziehen? Was war es, das andere, die mit ihm auch nur ideell in Verbindung gebracht wurden, vor der Verachtung und Rache ihrer Mitmenschen zittern ließ? Der Oberrabbiner der heutigen portugiesisch-israelitischen Gemeinde in Amsterdam, Pinchas Toledano, begründet die Weigerung, wenigstens nachträglich den Bannfluch über Spinoza aufzuheben, damit, dass er »die Fundamente unserer Religion« zerrissen habe.7

      Gefährliches Selbstdenken

      Bis heute ist nicht restlos geklärt, was zum Ausschluss Spinozas aus der jüdischen Gemeinde geführt hatte. Zeitgleiche Ausschlüsse zweier weiterer Männer, die mit Zweifeln an der Authentizität der Thora aufgefallen waren, lassen vermuten, dass Spinoza ebenfalls zu jenen zählte, die Misstrauen in die heiligen Texte verbreiteten. Ein solcher »Ketzer« war der französische Bibelkritiker Isaac de La Peyrère, dessen Schrift Prae-Adamitae 1655 in Amsterdam erschienen

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