Das sind wir unsern Kindern schuldig. Jakob von Uexküll

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Das sind wir unsern Kindern schuldig - Jakob von Uexküll eva taschenbuch

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sich selbst produzierten. Ihr Land war ihnen inzwischen von den Großgrundbesitzern weggenommen worden, die Tabak für den Export anbauten. Alte Fähigkeiten werden schnell vergessen, werden zerstört durch Billigimporte und belegt mit dem Stigma des Primitiven. Man baut keine Häuser aus Lehm mehr, man geht lieber in die Stadt und wird Automechaniker oder Fernsehreparateur.

      Es gibt zwei grundsätzliche Entwicklungsmodelle für die Armen. Es gibt das Weltbank-Modell, das, wie die Weltbank inzwischen selbst zugibt, großteils fehlgeschlagen ist. Wenn man heute in afrikanischen, lateinamerikanischen und vielen asiatischen Ländern fragt, wie es der Mehrheit der Bevölkerung gehe, wie denn ihre Lebensqualität sich verändert habe, kommt fast immer die Antwort, der großen Mehrheit gehe es schlechter als noch vor zwanzig Jahren.

      Es gibt aber ein anderes Modell: das Modell von Kerala. Kerala ist ein indischer Bundesstaat, noch ärmer als der indische Durchschnitt, wo man aber nicht warten wollte auf das eventuelle „trickledown“, das Heruntertröpfeln des Geldes der Reichen. Die Menschen in Kerala haben sich in großen Volksorganisationen zusammengetan – mit dem Ziel, den Analphabetismus abzuschaffen (die Raten liegen heute bei denen der Industriestaaten), die Säuglingssterblichkeit zu reduzieren und die Lebenserwartung zu erhöhen. Auch diese liegen inzwischen auf dem Niveau der Industriestaaten. Aber jetzt sagen uns die Vertreter dieser großen Organisationen, es werde immer schwieriger, in der Zeit der Globalisierung dieses Modell aufrechtzuerhalten. Man könne die eigene Wirtschaft nicht mehr schützen. Der Druck der Individualisierung würde zunehmen, das Kerala-Modell sei altmodisch.

      Wer wagt schon, wie Ex-Präsident Aristide in Haiti, zu erklären, sein Ziel sei es, das Volk von Haiti aus der Misere in eine Armut mit Würde zu führen? Heute sind die USA das globale Ziel. Unsere Regierungen dürfen uns vor diesem (illusionären) Ziel nicht mehr schützen. Das verstößt gegen irgendwelche Regelungen der Welthandelsorganisation, der Weltbank oder des Währungsfonds. Wir dürfen uns nicht schützen vor Importen von genmodifiziertem US-Getreide. Wir dürfen nicht mehr bestimmen, welche Risiken wir eingehen, welche Opfer wir dem Moloch Weltmarkt bringen.

      Wenn die Abhängigkeit vom Weltmarkt total wird, gibt es kein Entkommen. Das ist bereits heute vielfach der Fall: Die Menschen hungern nicht, weil es in ihrem Land nichts zu essen gibt. Länder, in denen gehungert wird, sind oft Nettoexporteure von Lebensmitteln, auch in Zeiten des Hungers. Oder sie exportieren Futtermittel für unsere Tiere, weil unsere Tiere eine höhere Kaufkraft haben als die dortige Bevölkerung. Die großen Farmen gehören einheimischen Großgrundbesitzern, die in den Städten leben und keinen Kontakt mehr zur Landbevölkerung haben. Oder sie gehören ausländischen Unternehmen. Es gibt keine solidarische Reziprozität mehr. Es gibt nur noch die Geldwirtschaft. Alte Strukturen sind zerstört durch die Feier eines ungehemmten Individualismus, einer ungehemmten Habgier – ein menschlicher Charakterfehler, der plötzlich hoch gelobt wird als etwas Natürliches und Universelles.

      Die wirtschaftliche Globalisierung bestimmt heute alle Aspekte des globalen Wandels. Alle Lebensbereiche werden zunehmend ökonomisch gesteuert. Die Demokratie regelt immer weniger, denn hinter den politischen Beschlüssen stehen Kosten-Nutzen-Analysen von Ökonomen. Bei drohenden Umweltschäden hat man zuerst den Menschen die logische Frage gestellt, wie viel Schadensersatz sie verlangen, um die Umweltschädigung, die durch den Bau zum Beispiel einer neuen Fabrik verursacht wird, zu akzeptieren. Allerdings wurden dann so hohe Schadensersatzforderungen gestellt, dass keines dieser Großprojekte einen wirtschaftlich Sinn hatte. Das war natürlich nicht das gewünschte Ergebnis. Die Ökonomen entschlossen sich daher, die Sache andersherum anzugehen. Jetzt fragen sie: Wie viel würden Sie bezahlen, damit diese Umweltschädigung nicht eintritt? Sie schauen sich dann den Verdienst der betroffenen Leute an und befinden, dass diese gar nicht so viel zahlen können und reduzieren die Beträge entsprechend, damit die Projekte ihren Auftraggebern noch „wirtschaftlich“ erscheinen.

      Diese Strategie ist auf dem Gebiet des Klimachaos besonders verheerend. Denn die meisten, die darunter leiden werden, leben in armen Ländern und die meisten, die dafür zahlen müssten, in den reichsten Ländern. Die Ökonomen glauben, dass man den Wert eines Lebens danach berechnen muss, was sich jemand leisten kann. Der Wert eines aus Bangladesch stammenden Menschen wird daher mit einem Fünfzehntel dessen bewertet, was den Lebenswert eines Amerikaners ausmacht. Die Bangladeschis können es sich also gar nicht leisten, sich vor dem Ertrinken zu retten! Durch diese Berechnungen kann man ökonomisch belegen, dass es billiger ist, sich dem Klimachaos anzupassen, als es zu verhindern. Das sind die versteckten Berechnungen, die hinter Bewertungen stehen, die angeblich neutral sind.

      Die meisten Menschen wollen das Gefühl haben, im Einklang mit den Werten ihrer Gesellschaft zu leben. Ein Minister der vorherigen indischen BJP-Regierung, die mit aller Macht versucht hatte, Indien zu globalisieren und deswegen die Wahl verlor, sagte in einem Zeitungsinterview: „Mit den Werten ist es jetzt vorbei. Wir ermuntern die Leute, egoistischer zu werden.“ Die Wertelücke wird durch Marktwerte gefüllt. Der globale Wandel ist also nicht der Wandel des Bürgers zum Weltbürger, sondern der Wandel des Verbrauchers zum globalen Konsumenten.

      Früher wurden Greenpeace und Amnesty International noch von etwa fünfzig bis sechzig Prozent der Befragten als glaubwürdig gesehen. Inzwischen liegen sie bei dreißig Prozent, und eine absolute Mehrheit traut keiner Institution mehr. Der Alternative Nobelpreisträger Robert Jungk hat Zukunftswerkstätten entwickelt, in denen Menschen zusammenkamen und das Gefühl gewannen, dass sie selbst ihre Zukunft mitbestimmen können. Dazu müssen wir aber aus dem Gefängnis unseres postmodernen Werterelativismus heraus. Wir müssen Werte haben, an die wir tatsächlich glauben. Es kann nicht reichen, zu sagen: Dies ist halt mein Wert, und alle anderen haben andere, genauso gültige Werte. Der Glaube, es gebe europäische Werte, aber Asia-ten und Afrikaner hätten nun einmal ganz andere Werte, entspricht nicht meiner Erfahrung. Es heißt, in Europa würden individuelle Werte höher gesetzt, dort aber gemeinschaftliche Werte. Aber in vielen dieser Länder werden gemeinschaftliche Werte genauso unterdrückt wie individuelle.

      Der erste, der grundlegende gemeinsame Wert – eine Art menschlicher Brutinstinkt – ist der Wunsch, vielmehr: die tief gefühlte Verantwortung, unseren Kindern eine bessere oder wenigstens keine schlechtere Welt zu übergeben. Hätten wir Menschen nicht diesen Brutinstinkt, wären wir gar nicht mehr hier. Wir müssen diesem noch vorhandenen Brutinstinkt wieder die Kraft geben, die er einmal hatte. Zur Zeit wird er von den Werten des globalen Konsums unterdrückt. Ein Problem ist, dass dieser Wert keine Institutionen mehr hat, die für die Interessen zukünftiger Generationen sprechen.

      Merkwürdigerweise besaßen unsere Vorfahren solche Institutionen, obwohl ihre Entscheidungen viel weniger Einfluss auf die Zukunft hatten. Trotzdem fragten die Ureinwohner Nordamerikas bei ihren Beschlüssen immer, wie sie sich das auf die siebte Generation nach ihnen auswirken würden. In anderen Teilen der Welt gab es formelle Institutionen vergleichbarer Art. Im vorkolonialen Südindien existierten beispielsweise Räte der Seher in die Zukunft, die ein Vetorecht hatten.

      Heute stehen wir vor einer historisch einmaligen Herausforderung. Die Folgen des Klimachaos sind kaum vorstellbar. Ohne ein stabiles Klima nützen die Menschenrechte wenig. Es funktioniert dann auch keine Wirtschaft und keine Zivilisation. Dass es so weit gekommen ist, ist Beweis für ein unglaubliches Marktversagen und gleichzeitig ein Demokratie- und Politikversagen. Wir haben durch unseren Werterelativismus den Sinn für Gefahrenhierarchien verloren. Alle reden vom nachhaltigen Haushalten, als ob die ökonomische Nachhaltigkeit das Wichtigste wäre. Natürlich sollten wir kein Geld verschwenden, aber man muss sich immer wieder vergegenwärtigen, dass es den finanzpolitischen GAU, den Staatsbankrott, schon häufiger in der Geschichte gab. Doch die Folgen waren immer innerhalb einer Generation überwunden. Ein ökologischer Bankrott hingegen wird auch nach Tausenden von Generationen nachwirken, wenn er überhaupt wieder rückgängig zu machen ist. Mit Schuldnern kann man verhandeln, man kann umschulden, man kann stunden, man kann sogar einfach die Rückzahlung verweigern. Man kann den Bankrott erklären. Aber mit schmelzenden Gletschern kann man nicht verhandeln.

      Wir müssen unsere Politik, Sicherheit und Entwicklung wieder

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