Traum aus Eis - Der Kalte Krieg 3. Dirk van den Boom
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Hamid machte sich Sorgen um Vocis. Er war, so Aumes Vermutung, an ihr interessiert. Da Vocis sich um Yela sorgte, übertrug sich dieser emotionale Stress auch auf ihn. Er wirkte ein wenig hilflos. Es war für ihn eine ungewohnte Situation. Er versuchte, ruhig und souverän zu wirken, aber kleine Gesten und Worte verrieten ihn. Er redete manchmal zu viel, manchmal zu wenig. Aber er dachte offenbar darüber nach, wie er auf andere wirkte, vor allem auf die Frau. Aume war sich nicht immer sicher, welche Schlüsse er aus dieser Art von Selbstbetrachtung zog.
Plastikk machte sich Sorgen um sein Geschäft. Er redete oft von seinem Schrotthandel auf Canopus. Doch Aume durchschaute ihn. Der Gauner benutzte sein Unternehmen als Metapher für … alles. Er war kein Patriot. Er war ein Geschäftsmann, der wusste, dass es keinen Handel mehr geben würde, wenn alle Kunden erfroren waren. Er war pragmatisch und bereit, ein Risiko einzugehen. Und er sehnte sich mit großer Leidenschaft nach diesem Leben zurück, der Existenz kleiner Gaunereien, der Gemütlichkeit einer vertrauten Umgebung. Er fühlte sich möglicherweise ein wenig entwurzelt.
Aume dachte an Darius und Sol, die sie verlassen hatten, um einem dummen Traum nachzujagen, eine Reise, in der es um Vernunft in einer unvernünftigen Welt ging, eine Mission, die nach ihrer Bewertung zum Scheitern verurteilt war. Sol machte sich ganz bestimmt Sorgen um Darius, aber nur deswegen, weil er nicht verstand, was aus seinem Freund geworden war. Ein Prinz. War er also noch der, den er kennengelernt hatte, oder war er nun jemand anders? Und wenn anders, hieß dies, dass Sol ganz allein war? Aume bedauerte, ihn nicht mehr beobachten zu können, um mehr darüber zu lernen. Darius wiederum, zu dem Schluss war sie früh gekommen, sorgte sich um alle. Er wäre ein guter Imperator, dachte Aume, insoweit es dieses Konzept überhaupt gab. Eine Idee, die Darius vehement abgelehnt hätte, was diese in Aumes Augen nur noch attraktiver machte.
Dr. Thasri machte sich bestimmt auch Sorgen. Doch sie war eine Frau des klaren Verstandes und der Wissenschaft, und sie hatte Dinge erlebt und getan, die sie vom Rest der Gruppe abhob, ohne dass sie auf dieser Sonderstellung bestand. Sie war neben Plastikk auch die Älteste und ruhte auf eine Weise in sich, wie es Organische nur selten in ihrer so flüchtigen Existenz schafften. Sie war sparsam mit Worten und Gesten, aber sie wurde um Rat gefragt und manchmal ernster genommen als Aume selbst. Sie bot eine Perspektive an, um die auch die Schiffsintelligenz mitunter aktiv bat.
Und dann war da Holoban Kerr.
Schwierig, schwierig.
Wenn sie an ihn dachte, setzte Aume immer für einen winzigen Moment aus. Sie kam nicht gerne zu einem vorschnellen Urteil, geboren aus Leichtfertigkeit. Kerr hatte sie geweckt und von Anfang an begleitet, und er war in so vielem das Gegenteil von Dendh. Wo ihr alter Captain Machtbewusstsein und Fanatismus gezeigt hatte, blieb Kerr zurückgezogen, bescheiden und behutsam. Schüchtern. Still. Wo Dendh seine Autorität zum Maßstab aller Dinge gemacht hatte, bis hin zu Betrug und Missbrauch, blieb Kerr ein Helfer, ein Begleiter, ein beinahe schon dienstbarer Geist. Anspruchslos. Keiner, der sich aufdrängte. Keiner, der so tat, als sei er derjenige, der das Sagen habe. Jemand, der sich anpasste, eine Rolle fand und von sich selbst nicht mehr als das erwartete, was die eigenen Grenzen ihm vorgaben.
Und jemand, dessen Blicke, kleine Gesten, angefangene, aber nicht beendete Sätze alles sagten, was Aume wissen musste. Was sie alle hier wussten, worüber sich manche lustig machten und dann dachten, Kerr würde es nicht hören. Doch der Pilot bekam alles mit. Er reagierte nur nicht. Er wollte sich nicht ärgern lassen. Vielleicht schämte er sich ein wenig. Vielleicht fiel ihm keine passende Antwort ein, es fehlte ihm an Schlagfertigkeit, die andere in der Gruppe im Übermaß hatten, allen voran Plastikk, der auf alles einen Kommentar wusste.
Kerr war ruhig, zurückhaltend, unaufdringlich und schwer verliebt.
Aume kannte das Gefühl. Emotionen waren Teil ihrer Existenz, sie war wütend gewesen, respektvoll, hatte Bewunderung empfunden und Freundschaft, je nachdem, wie die zahlreichen Besatzungen der Vergangenheit sich mit ihr befasst hatten, was für Individuen sich ihr besonders verbunden gefühlt hatten. Dendh hasste sie, eine reine Empfindung, gespeist aus Demütigung, und sie kannte daher auch das Gegenteil, denn ohne Schwarz gab es kein Weiß. Und weil sie wusste, wie leicht aus Liebe oder auch nur Zuneigung eine Verletzung entstehen konnte, und weil sie wusste, dass es keinen Grund gab, Kerr zu verletzen, und weil sie wusste, dass diese Art der emotionalen Bindung für sie genauso unerwartet und neu war wie für ihn … weil ihr das alles bekannt war, wusste sie eben nicht, wie genau sie damit umgehen sollte.
Ihre Emanzipation hatte neue Türen geöffnet. Sie konnte neu denken, neu empfinden, neue Freiheit auskosten. Womit sie nicht gerechnet hatte, war, dass neue Freiheit und Autonomie dazu führen muss, ihre Beziehungen zu anderen Intelligenzen zu überdenken, für sie eine neue Grundlage zu finden.
Und Holoban Kerr wurde für sie damit zum Testfall. Wie immer, wenn man bisher unbekanntes Terrain betrat, verwendeten ihre Subroutinen Analogien zu beobachtetem Verhalten und zu ähnlichen, aber nicht identischen Erfahrungen aus der eigenen Vergangenheit. Und dennoch kam sie zu keinem abschließenden Ergebnis. Es würde ihr kein Schaden sein, so zu tun, als würde sie Kerrs Gefühle erwidern. Sie konnte diese auch körperlich ausdrücken, ihr Avatar war im Zweifelsfall voll funktionsfähig. Kerr lebte nicht mehr lange. Keiner der Sterblichen auf ihrem Schiff lebte mehr lange, selbst dann, wenn sie eines Tages eines natürlichen Alterstodes sterben würden. Aumes Zeitgefühl war ein anderes und die Leben ihrer Besatzungen waren Episoden – wichtige Episoden, wertvoll, bereichernd, aber eben nur genau das.
Holoban Kerr war also nur eine Episode.
Und in dem Moment, als sie das dachte, fühlte sie sich, als hätte sie ihn betrogen, sich verächtlich gezeigt, zumindest unfair. Keiner der Organischen konnte etwas dafür, dass er so schnell dahinsiechte und dass er die Zusammenhänge einer potenziell ewigen galaktischen Existenz nicht erfassen konnte, egal wie intelligent und gebildet er auch war. Es lag in der Natur ihrer Begrenztheit, dass sie nicht so weit blicken konnten. Aume war nicht arrogant in dieser Bewertung. Sie wusste ja, wie hilflos und von Gedächtnisverlust geplagt sie selbst gewesen war, alles andere als überlegen oder gar allwissend. Selbst jetzt, wo sich die Stücke ihrer Vergangenheit/Zukunft wieder zusammengesetzt hatten, war alles, was sie taten, ein Risiko mit einem gehörigen Anteil an unkalkulierbaren Elementen. Und in dem, was passieren konnte, waren sie alle gleichermaßen potenzielle Opfer. Auch einen Triumph würden sie teilen. Doch es war Aume, die sich noch Hunderte oder gar Tausende von Jahren später daran erinnern würde. Diese Besatzung aber würde im Sand der Zeit versinken und allein in ihren Datenspeichern fortexistieren, nicht mehr als eine Erinnerung, die mehr und mehr in den Hintergrund rückte.
Dennoch. Hin- und hergerissen war sie schon. Und sie empfand eine moralische Verpflichtung, etwas zu tun. Wenn das alles vorbei war. Einen autonomen Avatar vielleicht, mit einer intelligenznahen Selbststeuerung, und Holoban Kerr, der gute, der naive Mann, würde keinen Unterschied bemerken. Er hätte, wonach er sich sehnte, und er würde glücklich sein, keine Verletzung erleben und in seiner Zufriedenheit ein gnädiges und wohlgeratenes Ende finden, während Aume sich einer Verpflichtung entledigte, ohne sich dessen schämen zu müssen. Nicht allzu sehr. Ein wenig schon. Denn es war eine Form des Betrugs und Ethik war ein Konzept, das Aume für sich entdeckt und verinnerlicht hatte.
Es war trotz dieser Zweifel ein Ausweg, an dem sie mehr und mehr Gefallen fand. Sie behielt den Plan für sich. Erst musste die Grundlage für diesen ethisch angemessenen und gnadenvollen Betrug geschaffen werden: Das Überleben aller im Ringen mit Dendh und den Kalten war die erste Priorität.
Dennoch! Aume fühlte sich erleichtert, als sie zu dem Schluss gekommen war, der ihr dieses Problem von der Seele nahm. Wenn alles so leicht einer Lösung zugeführt werden