Mörder-Quoten. Leo Lukas

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Mörder-Quoten - Leo Lukas

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Pekarek in seinem Wettbüro einen Gasherd betrieben hat, um die Kundschaft mit Würsteln und Gulaschsuppe zu versorgen, ist naheliegend. Für denjenigen, der ihm das Lebenslicht ausgeblasen hat, gäbe es kaum eine sicherere Methode, die Spuren zu beseitigen, als eine Gasexplosion. Welche beileibe nicht bloß durch Hantieren mit offenem Feuer, etwa Kerzen oder Zigaretten, ausgelöst werden kann. Wurde der Gashahn lange genug offen gelassen, genügt es, irgendein elektrisches Gerät zu betätigen, damit im wahrsten Wortsinn der Funke überspringt. Lichtschalter, Türklingel, Handy … oder ein elektronischer Wecker.

      Der Bravo blickt auf die Armbanduhr.

      4:59:47. 13 Sekunden bis fünf.

      Mit einem Mal spürt er, dass es brenzlig wird. Sein Auftrag hat beinhaltet, dass er einen speziellen Gegenstand birgt, mit sich nimmt und später unauffindbar entsorgt. Hektisch schwenkt er den Strahl der Lampe über die Regalbretter. Im Vorbeifahren erfasst der Lichtkegel ein Einmachglas. Darin befindet sich das Gesuchte. Auf dem ausgebleichten Etikett steht „Feine Cornichons“. Aber das Gefäß enthält keine Gewürzgurken, sondern ein menschliches Ohr. Der Bravo schnappt sich das Glas, packt es in die Tasche und flieht durch das Stiegenhaus, so schnell ihn die Beine tragen.

      Seine innere Uhr zählt den Countdown der Sekunden herunter. Als sie bei null angelangt ist, hat der Bravo gerade einmal ein paar Schritte Abstand zu dem Haus gewonnen, an dessen Fassade im Erdgeschoss die Neonschrift „Lucky Star Casino“ rot und blau blinkt. Hinter einer Litfaßsäule wirft er sich in Deckung.

      Der Blitz ist grell, der Knall ohrenbetäubend. Die umliegenden Häuser am Dombrowski-Platz geben das Echo der Detonation mehrfach wieder.

      Als der Nachhall verebbt ist, steht der Bravo auf und geht weg, ohne sich umzusehen, gemessenen Schrittes, als wäre nichts geschehen. Niemand begegnet ihm auf dem Weg zur Tramway-Haltestelle. Die Straßenbahn kommt, er steigt ein. Sirenen heulen auf. Wenig später hört er Folgetonhörner von Einsatzfahrzeugen der Polizei, der Rettung und der Feuerwehr. Sie nähern sich aus verschiedenen Richtungen. Aber da ist er schon in Sicherheit.

      Wäre alles nach Plan gelaufen, hätte sich der Bravo jetzt noch für zwei Stunden hingelegt. Nach vollbrachter Tat ist er gewöhnlich entspannt und schläft sehr gut.

      Diesmal jedoch findet er keine Ruhe. Wie immer duscht er gründlich. Er stopft die einmalig verwendete Tasche und Kleidung in einen Müllsack, obwohl am Tatort mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht die kleinste Faser übrig ist. Dann starrt er lange das entwendete Gurkenglas an. Auftragsgemäß sollte er es ebenfalls so schnell wie möglich beseitigen, mitsamt dem bizarren Inhalt. Aber der Bravo zögert. Er weiß nicht, ob er das belastende Indiz nicht vielleicht doch noch benötigen wird, und er hasst nichts mehr als Ungewissheit.

      Schließlich verstaut er das Glas mit dem Ohr sorgfältig im Geheimfach der Anrichte. Es ist vorläufig der einzige Hinweis darauf, was hinter dieser Sache stecken könnte. Der Bravo setzt sich auf das Kanapee, steht wieder auf, geht in der Küche hin und her. Statt geschützt in seinem Schlupfwinkel, den niemand außer ihm kennt, fühlt er sich eingesperrt. Alle paar Minuten sieht er auf die Uhr. Endlich, um Punkt 7.30, richtet er sich das Frühstück. Der Bravo frühstückt immer, wenn irgend möglich, um halb acht, und immer dasselbe: zwei Scheiben Roggenmischbrot der Sorte Gestaubter Wecken mit Kalbsleberstreichwurst sowie Sirius-Camembert. Dazu eine Tasse Nescafé. Dies dient ihm als Ausgleich dafür, dass er sich in der Öffentlichkeit keinerlei Regelmäßigkeiten gestattet. Eingeschliffene Gewohnheiten können so verräterisch sein wie Fingerabdrücke. Ein guter Bravo wechselt seine von Fremden nachvollziehbaren Verhaltensmuster so häufig wie die Unterwäsche.

      Und er ist ein guter Bravo; einer der besten und gefragtesten hierzulande!, versucht er sich zu beruhigen, während er an dem Streichwurstbrot kaut. Aber der innere Frieden, den ihm dieses Ritual sonst verschafft, will nicht einkehren. Ungeheuerliches ist geschehen. Er hat einen Mordauftrag nicht ausgeführt.

      Hat er das wirklich nicht?

      Die Zielperson, der Buchmacher Hugo Pekarek, ist tot. Also wurde das gewünschte Endergebnis erreicht. Die erste Hälfte des Honorars ist bereits als Anzahlung überwiesen worden, auf ein nach allen Regeln der Kunst anonymisiertes, nicht bis zu ihm verfolgbares Bankkonto. Ob der zweite Teil wie vereinbart binnen zwei Tagen nachkommt oder auch nicht – der Bravo könnte die Episode ad acta legen und weiterleben wie bisher.

      Kann er das?

      Ihn stört, dass Pekareks Terminierung mit derart viel Tamtam vonstattenging. Eine Gasexplosion? Hallo! Es entspricht absolut nicht seinem Stil, Aufsehen zu erregen, und schon gar nicht, irgendwelche Unbeteiligte eventuell in Mitleidenschaft zu ziehen.

      Freilich, wer wüsste davon, außer dem unbekannten Auftraggeber, der letztlich ja doch bekommen hat, was er wollte? Maximal zwei, drei Zwischenhändler; Relaisstationen, über die der Kontakt hergestellt wurde. Personen, deren Verschwiegenheit ihr wertvollstes Kapital darstellt.

      Trotzdem. Der Bravo hat einen Ruf zu wahren. Nicht bloß aus Eitelkeit. Wer würde seine Dienste noch anfragen, wenn damit zu rechnen wäre, dass er nebenbei ein halbes Haus in die Luft sprengt?

      Er selbst entkam nur mit knapper Not. Achtung: Könnte das Ganze nicht überhaupt eine Falle gewesen sein, zugeschnitten auf niemand anderen als ihn?

      Wer sollte ihm eine solche Falle stellen? Und warum?

      Der Bravo weiß von keinen persönlichen Widersachern. Jemand, den es als Person nicht gibt, hat keine Feinde. Geschweige denn, dass er jemals irgendeine Fehde angefangen oder sich auf etwas Vergleichbares eingelassen hätte.

      Mitbewerber, die ihm die Erträge neiden? Mag sein. Aber wenn er in den vergangenen Jahren keinen groben Fehler gemacht hat – und das hat er ziemlich sicher nicht –, dann wissen die zirka zwei Handvoll anderen, richtig guten, in Mitteleuropa tätigen Profi-Killer nicht mehr über ihn als er über sie. Und es gibt nach wie vor mehr als genug Geschäft für alle, sodass man sich nicht in die Quere kommen muss.

      Gleichwohl darf er diesen Aspekt nicht aus den Augen lassen. In Summe jedoch bleibt vorerst: Der Einzige, der ihm gefährlich werden könnte, ist – er selbst.

      Dem Bravo wird mulmig. Ihm ist die Besonderheit seiner Existenzweise bewusst. Es macht etwas mit einem, wenn man von Berufs wegen immer wieder mal anderen die Lebenszeit drastisch verkürzt. Final. Aber da entsprechender Bedarf besteht, muss das irgendwer machen; und es hat niemand was davon, wenn man derlei Operationen einem Stümper überlässt … So hat der Bravo seine Tätigkeit bisher vor sich selbst gerechtfertigt. Er sieht weiterhin keinen Grund, von dieser Einstellung abzurücken. Indes hält er seit Langem für möglich, dass seine Irritationen zunehmen könnten.

      Was er tut, basiert auf striktester Geheimhaltung. Deshalb agiert er tagaus, tagein auf eine Weise, die hart an Paranoia grenzt. Die Sicherheitsvorkehrungen, denen er sich nahezu pausenlos unterwirft, sind durchaus neurotisch zu nennen. Diesbezüglich hat er alles nachgelesen, was er finden konnte, und sich selbst peinlich genau überwacht. Bis jetzt konnte er keine bedenklichen Anzeichen feststellen. Bis vor Kurzem. Aber. Wenden sich seine Erkenntnisse und Maßnahmen nun doch gegen ihn? Hat sein Unterbewusstsein rebelliert, um den gesellschaftlich-moralischen Dauerdruck abzuschütteln?

      Kurz gesagt: Könnte er selbst sich diese Falle gestellt haben? Hat er den heimlichen Wunsch, erwischt zu werden?

      Die menschliche Wahrnehmung ist ungemein subjektiv, notgedrungen selektiv. Das Gehirn kann nicht die vollständige Fülle dessen verarbeiten, was an Außenreizen einströmt. Unaufhörlich. Über all diese verflixten, nicht willkürlich abschaltbaren Sinne. Der Verstand muss auswählen, reihen, Prioritäten zuweisen. Sinn stiften. Zusammenhänge postulieren, wo objektiv gar keine bestehen.

      Überzeugt

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