Letzte Fragen. Thomas Nagel
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Es ist nur allzu verständlich, daß die Vorliebe für bestimmte Präzisionsmaßstäbe und Methoden zur Konzentration auf Probleme führt, die sich mit diesen Methoden voranbringen lassen. Als forschungsstrategische Entscheidung kann dies völlig rational sein. Aber oft führt die Entscheidung dann die ungesunde Tendenz mit sich, die Legitimität von Fragestellungen im Rückgriff auf die derzeit verfügbaren Lösungswege definieren zu wollen. Und diese Angewohnheit macht sich noch nicht einmal nur in den im engeren Sinne theoretischen Forschungsdisziplinen breit: Wir kennen sie unter Ismen wie »Pragmatismus« oder »Realismus« auch aus Kontroversen über politische und soziale Fragen. Sie gewährleistet zwar stets eine lässige Bequemlichkeit – die Möglichkeit, daß man genuine und wichtige Probleme erst gar nicht in den Blick bekommen könnte, wird ja von vornherein ausgeschlossen –, doch kommt sie in allen Fachgebieten, und insbesondere in der Philosophie, regelrechter Unzurechnungsfähigkeit gleich. Wer sich hingegen noch nicht dem Schwachsinn ausgeliefert hat, wird wissen, daß es nämlich gerade dann wirklich interessant wird, wenn neue Verfahren und zu ihnen passende Maßstäbe geschaffen werden müssen, damit sich auch solche Fragen behandeln lassen, die im Rahmen der bestehenden Untersuchungsmethoden nicht gestellt werden können. Bisweilen läßt sich ein volles Verständnis solcher Fragen erst erreichen, nachdem die entsprechenden Methoden erarbeitet worden sind, und es bleibt sicher wichtig, daß man bestrebt sein sollte, vage, obskure und unbegründete Behauptungen zu meiden und ein hohes Niveau der Rechtfertigung und Argumentation zu wahren. Aber andere Werte sind nicht minder wichtig, und manche von ihnen erschweren es, die Dinge in säuberlicher Ordnung zu halten.
Meine eigenen philosophischen Sympathien und Antipathien lassen sich ohne weiteres in wenigen Sätzen zusammenfassen. Ich glaube, wir sollten eher den Problemen trauen als den Lösungen, eher Intuitionen als Argumenten und eher pluralistischer Dissonanz als der Harmonie eines Systems. Einfachheit und Eleganz können niemals den Glauben an die Wahrheit von etwas begründen, auch nicht an die Wahrheit einer philosophischen Theorie. Normalerweise sollten sie im Gegenteil den Verdacht auf sich ziehen, daß die betreffende Theorie womöglich nicht wahr ist. Denn wird irgendein schlagendes Argument für eine intuitiv unannehmbare Konsequenz angeboten, liegt stets die Vermutung nahe, daß die Argumentation einen bislang noch versteckten Fehler in sich birgt – wiewohl es zugestandenermaßen auch sein kann, daß der Zweifelnde sich über die Quelle seiner intuitiven Vorbehalte im Irrtum befindet. Wenn Argumente oder systematische theoretische Überlegungen zu Ergebnissen führen, die man intuitiv für ungereimt halten würde; wenn eine glatte Lösung des Problems unseren Glauben nicht zu verdrängen vermag, daß sich das Problem noch immer stellt; oder wenn der Nachweis, daß irgendeine Fragestellung kein genuines Problem zum Ausdruck bringt, unsere Neigung nicht zum Verschwinden bringen kann, die Frage nach wie vor zu stellen: immer dann muß an der betreffenden Argumentation etwas verkehrt sein, und eine weniger arbeitsscheue Beschäftigung mit der Sache wird unumgänglich. Oft wird das Problem neu zu formulieren sein, da eine schlüssige Beantwortung der Frage in ihrer ursprünglichen Form nach wie vor nicht das Gefühl zum Verschwinden bringt, daß hier ein Problem besteht. Weil in der Philosophie stets auch unsere Methoden selber in Frage stehen, ist es gerade in dieser Disziplin grundsätzlich vernünftig, dem intuitiven Gespür, daß ein Problem eben noch ungelöst ist, größten Respekt zu zollen. Dies gibt einem die Möglichkeit, sich dafür offen zu halten, die etablierten Lösungswege jederzeit zu verlassen.
Solcherlei Einschätzungen philosophischer Praxis gehen alle davon aus, daß Philosophie stets auch überzeugen muß, soll sie so etwas wie Verstehen überhaupt ins Leben rufen können. Damit meine ich, daß Philosophie entweder zu Überzeugungen Anlaß geben oder dazu führen muß, daß sie aufgegeben werden. Für Verstehen genügt es nicht, lediglich mit einem System konsistenter Behauptungen versorgt zu werden. Und für das Fürwahrhalten hat, ganz im Gegensatz zu bloßen Verlautbarungen, zu gelten, daß es niemals unserer willkürlichen Kontrolle unterworfen werden sollte, wie immer diese auch motiviert sein mag. Unser Überzeugtsein muß unwillkürlich erfolgen.
Natürlich werden Überzeugungen nicht selten willkürlich kontrolliert, manchmal werden sie gar erzwungen. Schlagende Beispiele hierfür sind uns aus Politik und Religion vertraut. Aber dem befangenen Denken begegnet man in seinen subtileren Erscheinungsformen auch in intellektuellen Kontexten, und eine besonders augenfällige Rolle spielt dabei namentlich der Hunger nach Gewißheit. Wen dieses Verlangen quält, der findet sich ungern damit ab, auch nur für kurze Zeit keine Meinung zu einem Thema zu haben, das ihn interessiert. Jemand mag seine Meinungen zwar häufig wechseln, sobald sich ihm eine passable Alternative einstellt, kann aber den Zustand, in dem er sich vorläufig des Urteils zu enthalten hätte, einfach nicht aushalten.
Dies kommt auf unterschiedliche Weisen zum Ausdruck, die in der Philosophie nur allzu vertraut sind. Zum einen begegnet uns hier der Hang zum systematischen Theoretisieren, eine Vorliebe für Theorien, die Schlußfolgerungen zu allem und jedem zulassen. Sodann finden wir eine gewisse Neigung zu lupenreinen Dichotomien vor, die zur Entscheidung zwischen einer richtigen und einer falschen Alternative nötigen. Und schließlich begegnet uns die Bereitschaft, eine Theorie allein schon deshalb für wahr zu halten, weil alle anderen gegenwärtig zu diesem Thema denkbaren Auffassungen bereits widerlegt worden sind. Nur ein ungezügelter Appetit auf Überzeugungen kann die Anerkennung einer Theorie aus solchen Gründen motivieren. Und eine letzte Zuflucht für jene, die damit unzufrieden sind, keine festen Meinungen zu einem Thema zu haben, denen es aber auch nicht herauszufinden gelingt, was wirklich wahr ist, besteht darin, kurzerhand festzulegen, daß es innerhalb der strittigen Gebiete ein Wahr und Falsch gar nicht gibt: Wir brauchen uns also erst gar nicht für eine Überzeugung entscheiden, sondern können entweder per Dekret behaupten, was wir wollen, solange wir dabei nur konsistent bleiben, oder über das Schlachtengetümmel irregeleiteter theoretischer Gegner hinauswachsen und es als unparteiischer Beobachter – wohl mit Interesse, aber aus sicherer Distanz – verfolgen.
In der Philosophie ist es keineswegs leichter als in anderen Disziplinen, Oberflächlichkeit zu meiden. Nur zu gern verfällt man auf sogenannte ›Lösungen‹, die vor der Tiefe und Schwierigkeit ihrer eigenen Ausgangsprobleme nicht standhalten. Dieser Tendenz kann man nur entgegensteuern, indem man sich unbeirrbar um genuine Antworten bemüht und während seines Ausschauhaltens auch eine längere Zeitdauer ohne Lösungen in Kauf zu nehmen bereit ist. Dafür muß man aber auf einen gepflegten Widerwillen gegen jedes bloße Beiseiteschieben bislang unerklärter Intuitionen zurückgreifen können und auf die Gewissenhaftigkeit, vernünftige Maßstäbe klarer Problemstellung und stimmiger Argumentation zu wahren.
Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß es für manche philosophischen Probleme so etwas wie echte Lösungen nicht geben können wird. Ich vermute, daß dies auf die tiefsten und ältesten dieser Probleme wirklich zutrifft. Sie verweisen uns in der Tat auf Grenzen unseres Erkenntnisvermögens. Aber auch in solchen Fällen können wir ein wenig profundere Einblicke nur gewinnen, indem wir uns standhaft auf das Problem einlassen – anstatt es einfach fallenzulassen – und ein Verständnis dafür ausbilden, weshalb jeder neue Lösungsversuch nicht minder zum Scheitern verurteilt war als samt und sonders alle seine Vorgänger. Aus keinem anderen Grunde studieren wir ja durchaus auch die Schriften von Philosophen wie Platon und Berkeley, deren Antworten in unseren