Letzte Fragen. Thomas Nagel

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Letzte Fragen - Thomas Nagel eva taschenbuch

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er dadurch keine Sekunde seines Lebens.

      Die Zeitrichtung ist entscheidend, sobald wir einem Menschen oder überhaupt einem Individuum Möglichkeiten zuschreiben. Verschiedene mögliche Leben einer einzelnen Person können, ausgehend von einem gemeinsamen Anfang, divergieren, aber sie können schwerlich aus unterschiedlichen Anfängen in einem gemeinsamen Ende zusammentreffen. (Im letzteren Fall würde es sich nicht um eine Reihe verschiedener möglicher Leben ein und desselben Individuums handeln, sondern um eine Reihe verschiedener möglicher Individuen, deren Leben gegen ein gemeinsames Ende konvergierten.) Wir können uns also für jedes identifizierbare Individuum unzählige mögliche Fortsetzungen seines Lebens vorstellen und uns immerhin vor Augen führen, wie es für dieses Individuum wäre, unendlich lange weiterzuexistieren. Wie unausweichlich es auch immer sein mag, daß dieser Fall nie eintreten wird, besteht doch diese beständige Möglichkeit als die Möglichkeit, daß das Gute am Leben kontinuierlich fortdauert (wenn sein Leben tatsächlich so gut ist, wie wir unterstellt haben).3

      Es stellt sich mithin die Frage, ob die Nichtverwirklichung dieser Möglichkeit in jedem Falle ein Unglück sein muß, oder ob dies davon abhängt, was vom Weiterleben überhaupt noch zu erhoffen war. Das scheint mir die in Wahrheit gravierendste Schwierigkeit für die Position zu sein, daß der Tod jederzeit ein Übel sei. Selbst wenn es uns gelänge, das Befremden abzuschütteln, ob man überhaupt von einem Übel reden kann, wenn das Unglück nie erlitten wird oder einer Person nicht zu Lebzeiten zugeschrieben werden kann, bliebe nämlich noch die Frage, wie aussichtsreich dann eine Aussicht zum mindesten zu sein hat, damit als Unglück aufgefaßt werden kann, daß sie nicht verwirklicht wird (oder als Glück, falls es sich um die Aussicht auf etwas überaus Schlimmes gehandelt hat). Gewöhnlich gilt Keats' Tod im Alter von nur vierundzwanzig Jahren als eine Tragödie, nicht aber Tolstois Tod als Zweiundachtzigjähriger. Obwohl beide bis in alle Ewigkeit tot sind, wurde Keats ja vieler Lebensjahre beraubt, die Tolstoi noch beschieden waren. Keats mußte also ganz eindeutig einen komparativ größeren Schaden erleiden (obwohl dies freilich nicht der Sinn von »größer« ist, mit dessen Hilfe unendliche Quantitäten normalerweise in der Mathematik verglichen werden).

      Indessen kann so nicht bewiesen werden, daß Tolstoi etwa nur einen unbedeutenden Verlust erlitten hat. Denn womöglich verhält es sich lediglich so, daß wir erst dann Protest einzulegen pflegen, wenn das Unausweichliche noch durch üble Dreingaben unnötig vermehrt wird. Jedenfalls nimmt die Tatsache, daß es entschieden schlechter ist, mit vierundzwanzig als mit zweiundachtzig Jahren zu sterben, dem Tod eines Zweiundachtzigjährigen nichts von seinem Schrecken – ebensowenig wie dem Tod eines Achthundertsechsjährigen. In Frage steht dann, ob wir eine Beschränkung, die wie die Sterblichkeit für eine Spezies normal ist, überhaupt für ein Unglück erachten können. Blind oder fast blind zu sein, ist für den Maulwurf schließlich kein Unglück und wäre es auch nicht für den Menschen, würde es von Natur aus zur Beschaffenheit seiner Spezies gehören, daß er nicht sehen kann.

      Das Mißliche hieran ist, daß uns das Leben immer schon vertraut macht mit all dem Guten, das der Tod uns dann raubt. Wir sind deshalb, im Unterschied zum Maulwurf, der die Fähigkeit zu sehen erst gar nicht würdigen kann, in der Lage, den Wert dieses Guten zu erkennen. Lassen wir die Zweifel beiseite, ob es sich überhaupt um etwas Gutes handelt, und gestehen wir außerdem zu, daß das Ausmaß des Guten zu einem Teil davon abhängt, wie lange es andauert, verbleibt uns die Frage, ob gesagt werden kann, daß der Tod, völlig gleichgültig wann er eintritt, sein Opfer der im relevanten Sinne möglichen Fortsetzung seines Lebens beraubt.

      Die Problemlage ist doppeldeutig. Aus der externen Perspektive besehen haben menschliche Wesen unbestreitbar eine natürliche Lebenserwartung und können unmöglich wesentlich älter werden als hundert Jahre. Doch das interne Bewußtsein, das jemand von seinem eigenen Erleben hat, schließt gerade nicht diese Vorstellung ein, daß die Natur seinem Leben eine Grenze gesetzt hat, vielmehr konkretisiert sich ihm das Dasein des Individuums als eine virtuell endlose Zukunft mit den gewohnten Wechselfällen von Gutem und Schlechtem, die ihm in der Vergangenheit so erträglich erschienen sind. Nun da er durch eine geradezu überflüssige Verkettung natürlicher, historischer und sozialer Kontingenzen auf die Welt gekommen ist, findet er sich als das Subjekt eines Lebens wieder, dem eine unbestimmte und nicht mit Notwendigkeit befristete Zukunft offensteht. Wie unvermeidlich der Tod auch sei, löscht er aus dieser Perspektive auf abrupte Weise all das mögliche Gute aus, das andernfalls in unbestimmtem Umfange hätte eintreten können. Daß unser Tod normal ist, hat damit offenbar nicht das Mindeste zu tun, denn aus der Tatsache, daß ein jeder von uns unausweichlich nach ein paar Dutzend Jahren sterben wird, folgt ja keineswegs, daß es nicht gut wäre, weiterzuleben. Gesetzt, es sei unausweichlich für uns alle, vor unserem Tod in Agonie zu verfallen – in eine sechs Monate anhaltende physische Agonie. Würde diese Aussicht auch nur um ein Jota weniger unangenehm aufgrund irgendeiner Unausweichlichkeit? Und warum sollte es sich dann mit dem beschriebenen Verlust eigentlich anders verhalten? Bei einer mittleren Lebenserwartung von tausend Jahren wäre es ja nachgerade eine Tragödie, im Alter von nur achtzig Jahren zu sterben. Vielleicht steht es so, daß diese Tragödie unter unseren heutigen Bedingungen nur um einiges verbreiteter ist. Gibt es kein Alter, von dem an es sich nicht mehr zu leben lohnt, mag es sein, daß uns allen ein schlechtes Ende bevorsteht.

      Übersetzt von Karl-Ernst Prankel, Ralf Stoecker und Michael Gebauer.

      Das Absurde

      Die meisten beschleicht hin und wieder das Gefühl, das Leben sei absurd, und einige Menschen haben dieses Gefühl ständig und mit großer Intensität. Allein, die Gründe, die man für gewöhnlich anführt, um diese Überzeugung zu rechtfertigen, sind gelinde gesagt unzureichend: Sie können gar nicht wirklich erklären, weshalb das Leben absurd ist. Warum machen sie sich dennoch als der natürliche Ausdruck unseres Gefühls geltend, daß es sich in der Tat so verhält?

      I

      Vergegenwärtigen wir uns ein paar typische Reflexionen. Oft hört man, daß nicht das Mindeste dessen, was wir so alles tun, in einer Million Jahren nicht egal sein wird. Wenn dem so ist, läßt sich der Spieß aber doch ebenso leicht umdrehen, und dann ist auch nicht das Mindeste dessen, was in einer Million Jahren sein wird, heute von Bedeutung. Unter anderem wäre es dann insbesondere auch egal, daß alles von dem, was wir heute tun, dereinst egal sein wird. Ja, und selbst wenn es so wäre, daß unser heutiges Tun jemandem in einer Million Jahren tatsächlich nicht egal Sein würde? Dann bliebe noch immer die Frage, warum hierdurch etwas, das uns heute beschäftigt, davor bewahrt würde, absurd zu sein: Was könnte es uns denn nützen, wenn etwas davon in einer Million Jahren für jemanden nicht egal wäre, wenn noch nicht einmal der Tatbestand, daß es heute nicht egal ist, ausreichte, unser Tun vor Absurdität zu retten?

      Die Frage, ob etwas, das wir heute tun, in einer Million Jahren bedeutend ist, markiert nur dann die entscheidende Differenz, wenn seine Bedeutsamkeit in einer Million Jahren von seiner Bedeutsamkeit schlechthin abhängt. Stellt man jedoch von vornherein in Abrede, daß irgend etwas dessen, was sich in unseren Tagen zuträgt, in einer Million Jahren von Bedeutung ist, begeht man eine Petitio principii gegenüber dieser zweiten Frage: Man verneint sie immer schon. Denn in diesem Sinne kann man gar nicht sicher sein, daß es in einer Million Jahren egal ist, ob (zum Beispiel) heute jemand glücklich oder unglücklich ist, wenn man nicht immer schon sicher ist, daß es schlechthin egal ist.

      Was wir vorbringen, wenn wir anderen die Absurdität unseres Lebens vor Augen führen wollen, kann häufig auch mit Raum oder Zeit zu tun haben: Schließlich sind wir doch alle nur winzige Staubkörnchen in den unendlichen Weiten des Alls; die Spanne unseres Lebens ist doch selbst nach erdgeschichtlichen, ganz zu schweigen von kosmischen Maßstäben nicht mehr als ein bloßer Augenblick; ja, wir werden doch alle jeden Moment tot sein. Aber natürlich kann keine dieser evidenten Tatsachen zur Folge gehabt haben,

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