Letzte Fragen. Thomas Nagel
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Aber diesem Einwand liegt ein falsches Verständnis dessen zugrunde, was den Schritt beiseite eigentlich ausmacht. Er soll uns ja nicht darüber aufklären, was wirklich wichtig ist, so daß wir uns dann genötigt sehen, in Antithese hierzu die Unwichtigkeit unseres irdischen Daseins anzuerkennen. Wir geben im Verlaufe dieser Überlegungen nirgends die gewöhnlichen Standards auf, nach denen wir alle unser Leben führen. Wir schauen uns vielmehr an, wie diese Standards funktionieren, um festzustellen, daß uns dann, wenn sie in Zweifel gezogen werden, nichts anderes übrig bleibt, als sie nur durch Rückgriff auf ebendiese Standards selbst zu rechtfertigen – und das bringt natürlich nichts ein. Wir bleiben diesen Standards treu, weil wir nun einmal so beschaffen sind, wie wir es sind; was uns wichtig oder bedeutend oder wertvoll erscheint, würde uns nicht so erscheinen, wenn wir anders beschaffen wären.
Es ist klar, daß wir im alltäglichen Leben eine Situation nur dann für absurd halten, wenn wir bestimmte Standards dafür vor Augen haben, wann etwas ernst zu nehmen, wichtig oder harmonisch ist, vor deren Hintergrund das Absurde gestellt werden kann. Die philosophische Behauptung der Absurdität dagegen setzt diese Art eines kontrastierenden Hintergrunds nicht voraus, und das könnte einen dann zu der Vorstellung verleiten, als sei der Begriff ›Absurdität‹ gar nicht geeignet, diesem Urteil Ausdruck zu verleihen. Das stimmt aber nicht, weil ja das philosophische Urteil auf einem anderen Kontrast beruht, durch den es dann zur natürlichen Weiterentwicklung des alltäglichen Urteilens wird. Der Unterschied liegt nur darin, daß im philosophischen Urteil die Ansprüche und Anmaßungen unseres Daseins mit einem umfassenderen Kontext konfrontiert werden, in dem überhaupt keine Standards mehr zu entdecken sind, und nicht wie im Alltagsurteil, mit einem Kontext alternativer Standards, welche die anderen ausstechen.
V
In dieser Hinsicht wie auch in anderen gleicht die philosophische Sicht des Absurden dem erkenntnistheoretischen Skeptizismus. Hier wie dort wird der letzte philosophische Zweifel nicht irgendeiner unanfechtbaren Gewißheit gegenübergestellt – obgleich dieser Zweifel infolge einer Extrapolation aus Einzelfällen entstanden ist, in denen innerhalb eines Systems von Indizien und Rechtfertigungen Zweifel aufkommt und in denen der Kontrast zu anderen Gewißheiten tatsächlich vorausgesetzt ist. Und hier wie dort trifft unsere Begrenztheit und Endlichkeit auf das Vermögen, diese Grenzen im Denken zu überschreiten (und sie so erst als Grenzen, und zwar als unaufhebbare Grenzen zu erkennen).
Der Skeptizismus setzt dort ein, wo wir uns selbst als Teil der Welt verstehen, über die wir Erkenntnis beanspruchen. Wir stellen fest, daß bestimmte Formen der Evidenz uns überzeugen, und wir durchaus bereit sind, Rechtfertigungen unserer Überzeugungen einmal zu einem Ende kommen zu lassen. Und zugleich stellen wir fest, daß wir eine ganze Menge zu wissen glauben, wiewohl wir nicht wissen – ja noch nicht einmal Gründe mitbringen für unsere Überzeugung –, daß viele der skeptischen Möglichkeiten unverwirklicht sind, die unsere Erkenntnisansprüche in ihrem Grundfesten erschüttern würden, wären sie hinter unserem Rücken am Ende doch verwirklicht.
Ich weiß zum Beispiel, daß ich auf ein Blatt Papier blicke, habe aber keine adäquaten Gründe für die Behauptung, ich sei sicher, daß ich nicht träume; falls ich aber träume, blicke ich jetzt nicht aufs Papier. In diesem Beispiel wird eine ganz alltägliche Vorstellung davon aufgeboten, wie Schein und Wirklichkeit auseinanderklaffen können, um zu zeigen, daß wir darauf vertrauen, unsere Welt sei zum überwiegenden Teil authentisch. Die Gewißheit, daß wir das alles nicht bloß träumen, läßt sich schlechterdings nicht anders als zirkulär rechtfertigen: mittels eben jener Erscheinung, die in Zweifel gezogen wird. Die Vermutung, ich könnte träumen, ist fraglos ziemlich weit hergeholt, doch dient sie auch nur zur Illustration. Sie zeigt, daß unsere Erkenntnisansprüche darauf beruhen, daß wir es nicht für nötig erachten, bestimmte damit unvereinbare Alternativen auszuschließen. Die Traumhypothese oder auch die Hypothese, wir würden die ganze Zeit nur halluzinieren, stehen für eine unendliche Vielzahl derartiger Möglichkeiten, von denen wir uns die meisten nicht einmal vorstellen können.1
Haben wir erst einmal den Schritt beiseite getan und sind wir damit zu einer abstrakten Sicht unseres gesamten Meinungs-, Indizien- und Rechtfertigungssystems gelangt, und haben wir dann festgestellt, daß dieses System trotz aller Ambitionen nur funktioniert, wenn es von vornherein der Authentizität unserer Welt weitgehend vertraut, so sind wir nicht in der Lage, all diese Erscheinungen mit einer anderen, alternativen Wirklichkeit zu konfrontieren. Wir können nicht aufhören, so zu reagieren und uns Antworten auf unsere Fragen zu bilden, wie wir es gewöhnlich tun, und selbst wenn wir es könnten, hätten wir nichts mehr in der Hand, womit sich eine Wirklichkeit, gleich welcher Art, erkennen ließe.
Dasselbe gilt im Bereich der praktischen Vernunft. Wir schlüpfen nicht etwa aus unserem Leben und erklimmen einen Aussichtspunkt, von dem aus wir einen genauen Überblick haben, was nun wirklich und objektiv wichtig ist. Wir bleiben uns unserer Lebensführung auch weiterhin zu einem großen Teil sicher, während wir zugleich sehen, daß alle unsere Entscheidungen und alle unsere Gewißheiten nur möglich sind, weil es uns nichts ausmacht, eine Unmenge von Erwägungen und Zweifeln von vornherein auszusondern und abzutun.
Man kann sowohl zum erkenntnistheoretischen Skeptizismus wie auch zu einem Gefühl der Absurdität auf dem Wege über die eigentlichen anfänglichen Zweifel gelangen, die sich noch ganz im Rahmen des von uns akzeptierten Indizien- und Rechtfertigungssystems halten; und man kann sie auch beide in Worte fassen, ohne damit unserer gewöhnlichen Begrifflichkeit auch nur im mindesten Gewalt anzutun. Wir können nicht nur die Frage stellen, warum wir denn glauben sollten, daß es den Boden unter unseren Füßen tatsächlich gibt, sondern auch die Frage, warum wir unseren Sinnen überhaupt trauen sollten und es werden sich solche Fragen bis zu dem Punkte spinnen lassen, wo es dann keine Antwort mehr auf sie gibt. Entsprechend können wir nicht nur fragen, warum wir eine Aspirintablette nehmen sollten, sondern auch, warum wir uns überhaupt Sorgen um unser Wohlergehen machen sollten. Allein die Tatsache, daß wir die Aspirintablette nehmen werden, ohne eine Antwort auf diese letzte Frage abzuwarten, zeigt noch nicht, daß es sich dabei um eine unwesentliche Frage handelt. Wir werden auch weiterhin daran glauben, daß es den Boden unter unseren Füßen gibt, ohne auf die Beantwortung der anderen Frage zu warten. In beiden Fällen ist es dieses grundlose, aber tief verwurzelte Vertrauen, das zu jenem skeptischen Zweifel Anlaß gibt. Deshalb kann es auch nicht dazu aufgeboten werden sie auszuräumen.
Der philosophische Skeptizismus führt nicht dazu, daß wir unsere gewöhnlichen Meinungen aufgeben, aber er versieht sie mit einem eigentümlichen Beigeschmack. Nachdem wir feststellen mußten, daß die Wahrheit dieser Meinungen in Widerspruch zu möglichen Sachverhalten steht, von denen wir nicht begründet sagen können, sie seien nicht der Fall – es sei denn, wir suchten die Gründe gerade in denjenigen Meinungen, die wir in Frage gestellt haben – nun da wir dies feststellen mußten, ist unsere Rückkehr zu den altvertrauten Überzeugungen nicht ohne einen Hauch von Ironie und Resignation. Unfähig wie wir es sind, unsere gewöhnlichen Reaktionsweisen aufzugeben, auf denen diese Überzeugungen beruhen, nehmen wir sie eben wieder auf, ganz wie ein Ehegatte, der mit jemand anderem auf und davon geht und sich dann entschließt, doch wieder zurückzukehren. Aber wir sehen sie jetzt mit ganz anderen Augen (auch wenn damit keineswegs gesagt sein soll – weder im einen noch im anderen Fall –, daß die neue Einstellung geringer zu schätzen sei als die alte).
Genau die gleiche Situation entsteht, sobald wir erst einmal das Gewicht, das wir unserem Leben – und dem menschlichen Leben überhaupt – beimessen, in Frage gestellt und ganz und gar voraussetzungslos unter die Lupe genommen haben. Wir kehren dann gleichwohl wieder zum Alltagsleben zurück, wir können ja gar nicht anders, aber von nun an ist unsere Ernsthaftigkeit mit einem Schuß Ironie versetzt. Damit will ich nicht sagen, daß uns Ironie etwa der Absurdität entrinnen läßt. Es hat