Letzte Fragen. Thomas Nagel
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Übersetzt von Karl-Ernst Prankel und Ralf Stoecker.
Moralische Kontingenz
Kant vertrat die Auffassung, Glück oder Pech dürften weder unsere moralische Bewertung eines Menschen und seiner Handlungen beeinflussen, noch unsere eigene moralische Selbsteinschätzung.
Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt, oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich gut, und, für sich selbst betrachtet, ohne Vergleich weit höher zu schätzen, als alles, was durch ihn zu Gunsten irgend einer Neigung, ja wenn man will, der Summe aller Neigungen, nur immer zu Stande gebracht werden könnte. Wenn gleich durch eine besondere Ungunst des Schicksals, oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur, es diesem Willen gänzlich an Vermögen fehlete, seine Absicht durchzusetzen; wenn bey seiner größten Bestrebung dennoch nichts von ihm ausgerichtet würde, und nur der gute Wille (freylich nicht etwa ein bloßer Wunsch, sondern als die Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind) übrig bliebe: so würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas, das seinen vollen Werth in sich selbst hat. Die Nützlichkeit oder Fruchtlosigkeit kann diesem Werthe weder etwas zusetzen, noch abnehmen.1
Vermutlich hätte Kant dasselbe über einen bösen Willen gesagt, daß es nämlich moralisch gar nicht relevant ist, ob er seine bösen Ziele tatsächlich verwirklicht. Ebensowenig kann eine Handlungsweise, die man tadeln würde, falls sie schlechte Folgen hätte, dadurch gerechtfertigt werden, daß sie sich zufälligerweise doch zum Guten wendet. Für Kant kann es also dergleichen wie moralisches Risiko nicht geben. Diese Auffassung scheint mir falsch zu sein. Allerdings reagiert sie auf ein fundamentales Problem im Hinblick auf moralische Verantwortung, für das wir keine befriedigende Lösung kennen.
Das Problem ergibt sich aus völlig alltäglichen Bedingungen moralischen Wertens. Bereits vor jeder ethischen Reflexion ist es intuitiv plausibel, daß niemand moralisch angeklagt werden kann für etwas, das nicht seine Schuld war, oder für etwas, das auf Faktoren zurückgeht, die sich seiner Kontrolle entziehen. Wertungen dieser Art unterscheiden sich von Einschätzungen, daß etwas eine gute oder schlechte Sache respektive ein guter oder schlechter Weltzustand sei. Solche Einschätzungen können zu einer moralischen Wertung noch hinzukommen, doch wenn wir jemanden wegen seiner Handlungen angehen, sagen wir nicht einfach bloß, es sei schlecht, daß sie sich ereignet haben oder daß es ihn gibt. Vielmehr verurteilen wir ihn selbst und sagen von ihm, er sei schlecht, was nicht einerlei damit ist, daß er etwas Schlechtes sei. Eine moralische Wertung läßt sich nur auf bestimmte Adressaten anwenden. Ohne genau angeben zu können warum, spüren wir immerhin, wie überaus leicht moralische Wertungen durch die Entdeckung ins Wanken geraten, daß jemandes Handlung oder seine persönlichen Eigenschaften, egal wie gut oder schlecht, nicht unter seiner Kontrolle stehen. Wenn auch andere Bewertungen standhalten, scheinen diese dann ihre Berechtigung zu verlieren. Jedes eindeutige Fehlen von Kontrolle, sei es verursacht durch eine unwillkürliche Bewegung, physischen Zwang oder Unwissenheit über die Umstände, entschuldigt vom moralischen Standpunkt aus, was getan wurde. Aber was wir tun, hängt noch auf vielerlei andere Weise von Faktoren ab, die wir nicht in der Hand haben – oder kantisch gesprochen: von etwas, das nicht von einem guten oder bösen Willen bewirkt wurde. Und doch gilt es uns normalerweise als ausgemacht, daß externe Einflüsse in diesem weiteren Sinne Handlungen nicht entschuldigen, daß sie die (positive oder negative) Wertung des Begangenen nicht ausschließen.
Ich möchte nun einige Beispiele geben und dabei mit der Art von Fällen beginnen, die Kant vor Augen hatte. Ob etwas, das wir versuchen, uns gelingt oder mißlingt, hängt nahezu immer in gewissem Maße von Faktoren ab, die nicht unserer Kontrolle unterliegen. Das gilt für Mord ebenso wie für Altruismus oder für Revolutionen; ja, es gilt sogar wenn wir eigene Interessen zum Wohle anderer hintanstellen – also für fast jede Handlung, die moralisch relevant ist. Was dann jeweils getan wurde, was mithin moralischer Wertung unterliegt, wird von externen Faktoren mitverursacht. Wie sehr der gute Wille auch für sich selbst gleich einem Juwel glänzen mag, besteht doch ein moralisch wesentlicher Unterschied zwischen der Situation, in der ich jemanden aus einem brennenden Gebäude in Sicherheit bringe, und einer Situation, in der ich ihn bei meinem Rettungsversuch aus einem Fenster im zwölften Stock fallen lasse. Und entsprechend besteht ein moralisch bedeutsamer Unterschied zwischen rücksichtslosem Fahren und fahrlässiger Tötung. Doch ob es tatsächlich dazu kommt, daß ein Fußgänger überfahren wird, hängt davon ab, ob er sich gerade an der Stelle befindet, an der ein rücksichtsloser Fahrer bei Rot durchrast. Und ebensogut hängt, was einer tut, von den Möglichkeiten und Alternativen ab, mit denen er konfrontiert ist, und diese sind wiederum großenteils von Faktoren mitdeterminiert, die nicht seiner Kontrolle unterliegen. Einer, der faktisch Aufseher in einem Konzentrationslager wurde, hätte womöglich ein ruhiges und harmloses Leben geführt, wären die Nazis in Deutschland nie an die Macht gekommen. Oder umgekehrt: Jemand, der in Argentinien ein ruhiges und harmloses Leben verbracht hat, wäre vielleicht Scherge in einem Konzentrationslager geworden, hätte er Deutschland nicht aus geschäftlichen Gründen im Jahre 1930 verlassen.
Später werde ich näher auf diese und weitere Fälle eingehen. Ich führe sie an dieser Stelle ein, um eine allgemeine These deutlich zu machen: Wann immer ein wesentlicher Aspekt dessen, was ein Mensch tut, von Faktoren abhängt, die nicht seiner eigenen Kontrolle unterliegen, und wir ihn unbeschadet dessen in der betreffenden Hinsicht nach wie vor als Gegenstand moralischer Wertung behandeln, können wir von moralischer Kontingenz sprechen. Bei derlei Kontingenz kann es sich um moralisches Glück handeln oder um moralisches Pech. Die Schwierigkeit, die im Zusammenhang mit diesem Phänomen aufkommt (und Kant gar veranlaßte, die Möglichkeit des Phänomens selbst in Abrede zu stellen) besteht darin, daß der globale Bereich externer Einflüsse, von dem die Rede war, bei genauerer Prüfung eine moralische Wertung ebenso unbestreitbar untergräbt, wie der engere Bereich der uns vertrauteren Entschuldigungsgründe für eine Handlung. Wendeten wir durchgängig die Bedingung der Kontrollierbarkeit an, würden sich infolgedessen die meisten unserer moralischen Wertungen aufzulösen drohen, die wir für selbstverständlich halten. Dinge, für die Menschen moralisch beurteilt werden, hängen in weit erheblicherem Maße von Vorgängen ab, die gar nicht erst ihrer Kontrolle unterliegen, als man auf den ersten Blick wahrnimmt. Und sobald man die scheinbar so natürliche Bedingung von Schuld oder Verantwortlichkeit dann im Lichte all dieser Tatsachen betrachtet, bleiben nur wenige unserer präreflexiven moralischen Wertungen unberührt. Ja, letzten Endes scheint nichts oder annähernd nichts von dem, was ein Mensch tut, von ihm allein kontrolliert zu werden.
Warum dann nicht schließen, daß die Kontrollierbarkeitsbedingung eben falsch ist – daß es sich bei ihr um eine anfänglich plausible Hypothese handelt, die sich jedoch in Anbetracht zwingender Gegenbeispiele nicht mehr halten läßt? Dann könnte man nämlich nach einer differenzierten Bedingung suchen, die jene Arten eingeschränkter Kontrollierbarkeit namhaft machen würde, die wirklich bestimmte moralische Wertungen untergraben, und so der inakzeptablen Konsequenz ausweichen, die sich aus der globaleren Bedingung ergäbe, daß womöglich die meisten oder gar alle moralischen Wertungen, die wir tagtäglich vornehmen, illegitim sind.
Was uns diesen Ausweg verunmöglicht, ist, daß wir es hier nicht nur mit einer theoretischen Hypothese zu tun haben, sondern mit einem philosophischen Problem. Die Kontrollierbarkeitsbedingung empfiehlt sich nicht einfach bloß aufgrund einer Verallgemeinerung, die auf einer Reihe eindeutiger Fälle beruht. Sie scheint uns gerade auch angewandt auf Fälle, die außerhalb der anfänglichen Fallmenge liegen, von vornherein die korrekte Bedingung zu sein. Sobald man moralische Wertung außer Kraft setzt, indem man sich darüber klar wird, daß noch ganz andere, neue Faktoren der Unkontrollierbarkeit im Spiel waren, entdeckt